Die Lebensqualität von Menschen mit Depressionen wird durch Antidepressiva langfristig nicht nennenswert verbessert. Das ergab eine groß angelegte Analyse der Gesundheitsdaten von Millionen US-Amerikanern. Die Studienautoren fordern daher, andere Behandlungsmöglichkeiten wie Psychotherapie und Hilfe zur Selbsthilfe vorzuziehen.
Die im April 2022 im Fachjournal PLOS ONE erschienene Studie sorgt derzeit für großes Aufsehen. Sie besagt im Kern: Die gesundheitsbezogene Lebensqualität von depressiven Menschen verbessert sich im Zuge einer zweijährigen Therapie mit Antidepressiva nicht mehr als bei Betroffenen, die solche Medikamente nicht einnehmen.
Kein langfristiger Nutzen?
Ein Forscher-Team der „King Saud University“ in Saudi-Arabien hatte dazu Daten aus dem „Medical Expenditures Panel Survey“ ausgewertet, einer USA-weiten, repräsentativen Befragung, die in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen erfasst.
Von den 17 Millionen Patienten, bei denen eine depressive Erkrankung diagnostiziert wurde, erhielt mehr als jeder zweite (57 Prozent) Antidepressiva, die übrigen (43 Prozent) nicht. Die Forscher verglichen nun, wie sich in beiden Gruppen die Lebensqualität entwickelte, die mit einem speziellen Fragebogen jeweils zu Beginn der Behandlung und dann wiederholt innerhalb von zwei Jahren erfasst worden war.
Das bemerkenswerte Ergebnis: Weder in den psychischen noch in den körperlichen Aspekten der Lebensqualität gab es nach zwei Jahren signifikante Unterschiede zwischen den Antidepressiva-Patienten und denen, die keine Psychopharmaka einnahmen.
Die Wissenschaftler stellen daher fest, dass Antidepressiva im realen Leben keineswegs zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Lebensqualität führen. Daher plädieren sie dafür, bevorzugt auf andere Behandlungsformen wie Psychotherapie, Hilfe zur Selbsthilfe, Aufklärung, Tagesstrukturierung und soziale Unterstützung zu setzen.
Außergewöhnlich an der neuen Studie ist insbesondere der lange Beobachtungszeitraum von zwei Jahren. Denn bislang haben die allermeisten einschlägigen Untersuchungen die Wirkung der Medikamente nur über wenige Wochen oder Monate verfolgt.
Kritik und großes Lob
Manche Fachleute halten die Studie allerdings nur für begrenzt aussagekräftig, da sie wichtige Einflussfaktoren außer Acht lässt. So wurde weder erhoben, wie leicht oder schwer die Depressionen ausgeprägt waren, noch ob die Patienten zusätzlich oder alternativ zu Antidepressiva eine Psychotherapie erhielten.
Vor allem Letzteres bemängelt die Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Greifswald, Dr. Eva-Lotta Brakemeier gegenüber dem Science Media Center (SMC):
„Da mittlerweile sämtliche nationale und internationale Leitlinien die Psychotherapie als Methode der ersten Wahl empfehlen – bei schweren Formen und chronischen Verläufen in Kombination mit Antidepressiva – erscheint mir diese Nicht-Berücksichtigung sowohl aus wissenschaftlicher als auch konzeptioneller Sicht gravierend.“
Professor Dr. Tom Bschor, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, weist gegenüber dem SMC darauf hin, dass es zwischen den Vergleichsgruppen – mit und ohne Antidepressiva – Unterschiede geben dürfte – „etwa Zugang zum Gesundheitswesen, Krankenversicherungsstatus, Schwere der Depression, Bildung, Einstellung zu Medikamenten und vieles anderes“.
Dennoch bescheinigt der Professor der Studie einen „hohen Wert“, da sie im Unterschied zu den nur auf wenige Wochen angelegten „randomisierten“ Studien (bei denen sich die Vergleichsgruppen dank Zufallseinteilung kaum unterscheiden) ein „realistisches Abbild der tatsächlichen Behandlungssituation“ gebe.
Wie Bschor betont, fand sich auch in solchen Studien „in der Gesamtschau lediglich ein kleiner Effekt auf die depressive Symptomatik und ein inkonstanter oder allenfalls in den ersten zwei bis drei Monaten vorhandener Effekt auf die Lebensqualität“. Die neue Studie unterstütze diese Erkenntnisse.
Die Autoren der neuen Studie weisen daher nach Bschors Einschätzung zurecht darauf hin,
„dass Ärztinnen und Ärzte eine stärkere Zurückhaltung bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen zeigen sollten, nicht nur wegen des fehlenden Effekts auf die Lebensqualität, sondern da sich die Befunde mehren, dass die Verordnung von Antidepressiva langfristig zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufes mit Chronifizierung und häufigeren Rückfällen der Depression und in der Folge der Notwendigkeit einer Dauerverschreibung von Antidepressiva führt“.
Wirkung seit Langem umstritten
Neu sind Zweifel am Nutzen von Antidepressiva also nicht. Schon seit Langem ist umstritten, ob die Wirkung tatsächlich deutlich über einen Placebo-Effekt hinausgeht und ob die Therapie langfristig Vorteile bietet.
So kam eine große Meta-Analyse britischer Forscher im Jahr 2008 zu dem Resümee, dass die neueren Antidepressiva allenfalls bei sehr schweren Depressionen besser wirken als Scheinmedikamente ohne Wirkstoff („Placebos“).
Grundlage waren 35 zum Teil unveröffentlichte Studien für die amerikanische Zulassungsbehörde FDA, bei denen der Effekt von Antidepressiva jeweils über sechs Wochen ausgewertet wurde. Ein Unterschied gegenüber Placebos ergab sich laut der Studie erst bei sehr schweren bis äußerst schweren Depressionen, bei leichten, mittelgradigen und mäßig schweren Erkrankungen dagegen nicht.
Eine andere große Meta-Analyse von 522 Studien zu 21 verschiedenen Antidepressiva ergab in 2018, dass die Medikamente zumindest kurzfristig wirksamer sind als Placebos, wenn auch nur geringfügig bis moderat. Eine weiteren Meta-Studie erbrachte, dass die Wirkung von Antidepressiva zu rund 70 Prozent auf einem Placebo-Effekt basiert.
Eine große Meta-Studie aus 2017 ergab schließlich, dass eine Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie wirksamer ist, als wenn Patienten allein mit Antidepressiva oder allein mit einer Psychotherapie behandelt werden.
Fazit
Gängige Antidepressiva sind keineswegs überflüssig. In vielen Fällen, etwa zur kurzfristigen Stabilisierung in schweren psychischen Krisen, haben sie vorerst weiter eine Berechtigung und einen Nutzen. Dieser Nutzen sollte aber nicht überschätzt werden, erst Recht nicht auf längere Sicht.
Das gilt auch und erst Recht für die Anwendung von Antidepressiva im Fall von größeren Tinnitus-Leiden, die oft mit einer depressiven Symptomatik, Angstzuständen oder erheblichen Schlafstörungen einhergehen.
Ärzte, die Tinnitus-Betroffene allein mit Antidepressiva behandeln, ohne auf nachhaltig wirksame Therapien zu verweisen, handeln in hohem Maße unverantwortlich und schaden Ihren Patienten leider in der Regel längerfristig weitaus mehr, als ihnen zu nutzen.
Stattdessen sollte bei jeglichem Tinnitus-Leiden möglichst frühzeitig eine habituationsorientierte Behandlung eingeleitet werden, die ein systematisches Unwichtigwerden und Überhören des Tinnitus ermöglicht.
Dazu zählen vor allem die erfolgreiche Tinnitus-Retraining-Therapie (die heute sinnvollerweise stets entspannungstherapeutische und psychologische Maßnahmen einschließt) und die daraus hervorgegangene, weitgehend identische „Tinnitus-Bewältigungs-Therapie“.
Bei Bedarf kann dies um eine individuelle Psychotherapie ergänzt werden. Auch Antidepressiva können – in schweren Fällen, welche ja die Ausnahme und nicht die Regel sind – ggf. unterstützend zum Einsatz kommen oder einer ersten Stabilisierung vor Beginn einer Habituationstherapie dienen.
Allerdings stehen zumindest einige Antidepressiva im Verdacht, Tinnitus (mit) zu verursachen und auch verschlimmern zu können. Daher sollten die Medikamente laut Empfehlung der Deutschen Tinnitus-Liga allenfalls niedrigdosiert eingesetzt werden.
Vorsicht geboten ist insbesondere bei Antidepressiva, die im Gehirn den Spiegel des Neurotransmitters Serotonin erhöhen, wie die sogenannten Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI).
Auch ist zu bedenken, dass Antidepressiva die Lebensqualität in vielen Fällen nicht nur nicht verbessern, sondern sogar verschlechtern – nämlich durch Nebenwirkungen wie starke Müdigkeit am Tage oder sexuelle Beeinträchtigungen.
Auf diese Weise können die Medikamente den heilsamen Vorgang der Habituation, bei dem der Tinnitus allmählich immer weniger stört und schließlich meist weitgehend ausgeblendet wird, unter Umständen sogar erheblich erschweren. Das hängt aber stark vom verwendeten Medikament bzw. vom individuellen Ansprechen auf die Arznei ab und lässt sich nicht verallgemeinern.
Ganz wichtig: Wer gegenwärtig Antidepressiva einnimmt, sollte diese auf keinen Fall aufgrund irgendwelcher Studien eigenmächtig absetzen!
Ob und wie die Medikamente abgesetzt bzw. ausgeschlichen werden können, sollte stets nach ausführlicher Beratung gemeinsam mit dem behandelnden Arzt entschieden werden. Entscheidend ist immer die individuelle Diagnose und Abwägung im ganz konkreten Fall.
Quellen
- Omar A. Almohammed, Abdulaziz A. Alsalem, Abdullah A. Almangour, Lama H. Alotaibi, Majed S. Al Yami, Leanne Lai: Antidepressants and health-related quality of life (HRQoL) for patients with depression: Analysis of the medical expenditure panel survey from the United States. Journal PLOS ONE, 20.4.2022
- Science Media Center: Langfristige Wirkung von Antidepressiva auf die Lebensqualität, 21.4.2022.
- Carolin Lang: Verbessern Antidepressiva langfristig die Lebensqualität? In: Pharmazeutische Zeitung, 22.4.2022.
- Rüdiger Meyer, Vera Zylka-Menhorn: Diskussion um die Wirksamkeit von Antidepressiva. In: Deutsches Ärzteblatt 2008; 105(10)
- Irving Kirsch et al.: Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food and Drug Administration. 26.2.2008 In: PLOS Medicine.
- Cipriani, Andrea et al. (2018): Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. The Lancet.
- Science Media Center (2018): Meta-Analyse bewertet Antidepressiva: sie sind wirksam & verträglich. Research in Context.
- Kamenov, Kaloyan et al. (2017): The efficacy of psychotherapy, pharmacotherapy and their combination on functioning and quality of life in depression: a meta-analysis. Psychological Medicine.
- Rief, Winfried et al. (2009): Meta-analysis of the placebo response in antidepressant trials. Journal of Affective Disorders.
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