Nicht nur Lärm, Schwerhörigkeit, Infektionen oder Stress verursachen Ohrgeräusche. Verantwortlich sein können auch Störungen von Halswirbelsäule (HWS), Nackenmuskulatur, Kiefer, Kaumuskulatur oder des großen Gesichtsnervs Trigeminus.
Zugleich besteht das weit verbreitete Phänomen, dass bestimmte Bewegungen des Kopfes oder Kiefers einen bestehenden Tinnitus beeinflussen, also lauter oder leiser machen (oder höher oder niedriger).
Das Erfreuliche ist, dass es für all diese scheinbar verschiedenen Phänomene eine einzige einfache Erklärung gibt – und dass die Wissenschaft dies mittlerweile gut erforscht hat.
In unserem großen, unabhängigen Ratgeber erklären wir Ihnen hier alles ganz genau:
- Warum verursachen Störungen von Halswirbelsäule, Kiefer & Co. Ohrgeräusche?
- Warum machen bestimmte Bewegungen von Kopf, Kiefer oder Hals einen Tinnitus lauter oder leiser?
- Was ist zu tun? Welche Behandlung ist sinnvoll? Wie stehen die Chancen auf Heilung oder Besserung?
Die Antworten auf diese Fragen sparen Ihnen womöglich eine Menge Zeit, Geld und Nerven.
Ohrgeräusch durch Störungen aus dem Körper: Der „somatosensorische“ Tinnitus
Der Verdacht auf eine solche körperliche Ursache liegt nahe, wenn Ihr Tinnitus zum Beispiel nach einem Zahnarztbesuch, einer Massage oder chiropraktischen Behandlung, nach Verrenkungen bei Gartenarbeit oder Sport oder nach einem Unfall aufgekommen ist.
Oder hatten Sie vor dem Aufkommen des Ohrgeräusches Kieferbeschwerden wie etwa Zähneknirschen, eine verspannte Kaumuskulatur oder „Kiefergelenk-Knacken“? Oder Probleme im Bereich der Halswirbelsäule wie Nackenverspannungen?
Dann ist es gut möglich, dass dies maßgeblich zur Tinnitus-Entstehung beigetragen hat.
All diese Fälle betreffen den Bewegungsapparat des Kopf-Hals-Bereiches und haben eines gemeinsam:
Das Ohrgeräusch geht hier nicht vom Ohr aus. Von den meisten Hals-Nasen-Ohren-Ärzten werden diese Tinnitus-Auslöser oder -Verstärker daher leider übersehen und in der Diagnostik nicht angemessen berücksichtigt. Nur wenige haben sich diesem Gebiet verschrieben, etwa der Baden-Württembergische HNO-Arzt Eberhard Biesinger.
Dabei gibt es sogar einen eigenen Fachbegriff für Ohrgeräusche, die im Zusammenhang mit Funktionsstörungen der Nerven, Muskeln oder Gelenke von Kopf, Hals oder Nacken stehen. Mediziner sprechen hier von einem „somatosensorischen Tinnitus“.
„Somatosensorisch“ bedeutet so viel wie „die Körperwahrnehmung betreffend“. Gemeint ist damit aber nicht Ihre bewusste Wahrnehmung. Vielmehr geht es um eine längst gut erforschte Tatsache:
Das menschliche „Hörsystem“ (so nennt man den für das Hören zuständigen Teil unseres zentralen Nervensystems) ist empfänglich für Signale aus dem Körper!
Vor allem Störungen aus Bewegungsapparat von Kopf, Hals und Nacken können Hörstörungen bewirken. Und solche Hörstörungen können dann einen Tinnitus auslösen oder verändern.
Das Risiko dafür ist umso großer, wenn noch andere typische Tinnitus-Auslöser hinzukommen, etwa Stress, eine Geräuschüberempfindlichkeit oder Schwerhörigkeit.
Halten wir fest:
Der „somatosensorische Tinnitus“ ist ein Ohrgeräusch, das durch Störungen (= „irreguläre Signale“) von Nerven, Muskeln oder Gelenken im Kopf-Hals-Bereich verursacht wurde und/oder beeinflusst wird.
Typische Diagnosen für solche Störungen wären das sogenannte „HWS-Syndrom“ oder die „craniomandibuläre Dysfuktion“ (CMD). (Beides erläutern wir gleich leicht verständlich.)
Hörstörung auf dem Weg ins Gehirn
Wie aber wird ein Ohrgeräusch überhaupt durch Probleme mit HWS, Nacken oder Kiefer verursacht oder beeinflusst?
Der Wissenschaft gab dies lange Zeit Rätsel auf. Schließlich sind die Halswirbelsäule oder der Nacken ein ganzes Stück vom Ohr entfernt! Und auch das Kiefergelenk, obwohl nahe dem Ohr, hat keinen direkten Einfluss auf das Innenohr oder das Hörvermögen.
Der Durchbruch gelang schließlich zwei Neuroanatomen aus Deutschland und Österreich, Winfried Neuhuber und Kristian Pfaller. Sie entdeckten, dass eine direkte Nervenverbindung zwischen den Muskeln der obenen Halswirbelsäule und den ersten „Schaltknoten“ von Gehör und Gleichgewichtssinn im Hirnstamm besteht.
Diese Schaltknoten sind die sogenannten „Schneckenkerne“ – die kleinen türkisen Punkte oben in der Grafik.
Dort laufen die Nervenimpulse vom Ohr in das Gehirn ein. Dort werden sie erstmals komprimiert und gefiltert – bevor sie dann über weitere Stationen zum Hörzentrum laufen.
Störungen im Bereich der ersten drei Halswirbel können nun über die Verbindung mit diesen Knoten gewissermaßen „dazwischenfunken“ – und Hörstörungen bewirken.
Das gleiche gilt für Störungen der Kiefergelenke und der Kaumuskulatur. Denn das sogenannte Kausystem ist eng mit der Halswirbelsäule verschaltet, wie ebenfalls die beiden Neuroanatomen herausfanden.
Die US-amerikanische Hörforscherin Susan Shore konnte später nachweisen, dass auch Störungen des (für die Kaumuskulatur und die gesamte Kieferfunktion zuständigen) Gesichtsnervs Trigeminus im Hirnstamm auf die Hörbahn „übersprechen“ können.
Dann kann es zu vorübergehenden Hörstörungen kommen, die man meist gar nicht bewusst bemerkt.
Im Hörzentrum des Gehirns aber kann dieser „Störfunk“ zu allerhand Turbulenzen, Ausgleichsvorgängen und Rückkopplungen führen – die sich dann in manchen Fällen zu einem Tinnitus „aufschaukeln“.
Dabei geraten Nervenzellen im sogenannten Hörfeld, auf dem sich das bewusste Hören abspielt, in eine unkontrollierte Dauererregung. Sie kommen nicht mehr, wie das normalerweise der Fall ist, zurück in den Ruhezustand, sondern „funken“ ohne äußeren Hörreiz vor sich hin.
Dies hören Sie dann als Tinnitus – etwa als Pfeiffen, Sausen, Zischen, Rauschen, Piepen oder Brummen.
Übrigens gilt ganz generell: Das sogenannte Ohrgeräusch wird niemals – wie man früher einmal annahm – aus dem Ohr gefunkt.
Die Tinnitus auslösenden Hörstörungen gehen zwar in vielen Fällen vom Ohr aus, z.B. bei Schwerhörigkeit, großer Lautstärke, einer Mittelohrentzündung oder einer Beeinträchtigung des Innenohrs durch Medikamente. Der Tinnitus selbst – als Reaktion auf diese Hörstörungen – entsteht aber immer erst Hörzentrum („auditiver Kortex“) des Gehirns.
Und so geht es jetzt weiter
Nach diesem Überblick wird es jetzt konkret: Wir sehen uns die beiden typischen „somatosensorischen“ Tinnitus-Auslöser an: zuerst die Halswirbelsäule und die Nackenmuskulatur, dann das Kiefergelenk und den Trigeminus-Nerv.
Anschließend erfahren Sie, was Sie tun können, wenn ein bestehender Tinnitus durch Kiefer- oder Kopfbewegungen lauter oder leiser wird.
Dabei zeigen wir jeweils auch die Möglichkeiten und Grenzen der einschlägigen medizinischen Behandlungen auf. In einem eigenen Abschnitt am Ende dieses Ratgebers finden Sie schließlich noch einen praktischen Überblick über die verschiedenen Therapien.
Und ganz zum Schluss: unser Fazit.
Tinnitus-Ursache Halswirbelsäule und Nackenmuskulatur: HWS-Syndrom & Co
Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule werden oft als „HWS-Syndrom“ bezeichnet.
HWS-Syndrom
Typische Symptome sind ein verspannter, „steifer“ Nacken, Nackenschmerzen, Schmerzen in der Schulter oder Schmerzen bei Kopfbewegungen. Mitunter strahlen die Schmerzen auch in Arme und Hände aus. Auch Kopfschmerzen oder Schwindel können auftreten – und Tinnitus.
Seltenere Begleiterscheinungen eines HWS-Syndroms sind ein Kribbeln und Taubheitsgefühl in den Fingern, Benommenheit, Übelkeit, Schluckbeschwerden oder gar Sehstörungen.
Andere Störungen
Um einen Tinnitus auszulösen, braucht es allerdings nicht unbedingt ein länger anhaltendes HWS-Syndrom. So können zum Beispiel eine grobe Massage oder eine unvorsichtige chiropraktische Behandlung kurzzeitige, vorrübergehende Hörstörungen bewirken, die sich dann innerhalb des Hörsystems zu einem Ohrgeräusch „aufschaukeln“.
Ganz wichtig ist aber: Es muss keine anhaltende Störung, Verletzung oder Erkrankung vorliegen.
Denn unter Umständen können auch scheinbar harmlose Bewegungen oder Belastungen, die nur mit kurzzeitigen, unmerklichen Störungen einhergehen, einen Tinnitus ausgelöst haben.
Zügige Behandlung angezeigt
Falls Ihr Tinnitus im Zusammenhang im Zusammenhang mit einer „handfesten“ Behandlung oder mit Schmerzen oder Verspannungen im Hals- und Nackenbereich aufgekommen ist, gilt es, etwaige Blockaden oder Fehlstellungen schnellstmöglich zu beheben.
An der richtigen Adresse ist man hier bei erfahrenen Physiotherapeuten, Osteopathen, Chiropraktikern oder auch Ärzten mit einer Spezialausbildung in der manuellen Therapie. Diese aufzusuchen, ist in den genannten Fällen erst einmal sogar weitaus wichtiger als der Besuch beim HNO-Arzt.
Der Therapeut sollte die gesamte Wirbelsäule und auch die Körperhaltung einbeziehen – und bei der HWS äußerst behutsam vorgehen. Denn Eine manuelle HWS-Behandlung, insbesondere per Chiropraktik, ist nicht risikofrei. Neben der passiven Behandlung sollten auch Übungen zur Dehnung, Entspannung und Kräftigung vermittelt werden.
Beim Verdacht auf ein HWS-Syndrom sollte man auch einen Facharzt für Orthopädie zurate ziehen. Dieser kann z.B. bei einem Verdacht auf Wirbelschäden ein CT (Computer-Tomografie) bzw. MRT (Magnetresonanztomografie) veranlassen.
Denn wenn solche Schäden übersehen werden, können manuelle Behandlungen weitere Verletzungen hervorrufen. Als erster Ansprechpartner kommt auch der Hausarzt in Frage.
Warten Sie bei einem akuten Ohrgeräusch auf keinen Fall lange auf einen Termin. Innerhalb der ersten Tage oder Wochen nach dem Auftreten des Tinnitus ist die Chance am größten, dass er durch das Beheben von HWS- oder Muskelstörungen wieder abklingt.
Es gibt immer wieder erfreuliche Erfolge durch solche Behandlungen. Wir raten daher bei Verdacht auf eine Beteiligung entsprechender Störungen an der Tinnitus-Entstehung grundsätzlich dazu, einen solchen Behandlungsversuch zu unternehmen.
Grenzen der Behandlung
Man muss allerdings auch klar sagen: In der Praxis wird ein Tinnitus damit nur in einer kleinen Minderheit von Fällen zum Verstummen gebracht. In den meisten Fällen hat die Behandlung keinen nennenswerten Effekt.
Das hat mehrere Gründe:
- Jeglicher Tinnitus kann sich sehr schnell „verselbständigen“ und dann fortbestehen, auch wenn mögliche Auslöser wie eine Nervenblockade oder Nackenverspannung behoben werden.
- Verspannungen in Schulter und Nacken sind heutzutage ein Allerweltsphänomen, das einen Großteil der Bevölkerung betrifft. Dass man solche Beschwerden verspürt, heißt keineswegs, dass diese auch an der Entstehung des Tinnitus beteiligt gewesen sein müssen.
- Häufig findet sich schlicht keine behandelbare Störung mehr – etwa weil die Störung, die das Ohrgeräusch ausgelöst hat, nur kurzzeitig und vorübergehend auftrat und längst wieder abgeklungen ist.
- Oft sind Verspannungen oder ein HWS-Syndrom auch eine Folge des Tinnitus! Denn wenn unter einem Ohrgeräusch leidet, ist man zwangsläufig gestresst. Das äußert sich unter anderem in einer verstärkten Muskelanspannung, die über längere Zeit zu Verspannungen führt – insbesondere an Halswirbelsäule und Schultergürtel.
Diese Einschränkungen sind der Grund, warum selbst die umfangreichste „Ursachenforschung“ inklusive zahlreicher einschlägiger Therapieversuche in der Praxis leider allzu oft ins Leere läuft.
Grundsätzlich gilt: Wenn das Ohrgeräusch schon seit vielen Wochen oder Monaten besteht, sind die Aussichten auf ein Abklingen durch manuelle Therapien relativ gering. In Einzelfällen sind Erfolge aber möglich und kommen auch immer wieder vor.
Überhaupt: Sich von einem erfahrenen Physiotherapeuten, Osteopathen oder Chiropraktiker einmal gründlich „durchchecken“ zu lassen, ist durchaus empfehlenswert. Nicht zuletzt kann eine solche Behandlung – mit entsprechenden Übungen für daheim – auch einer künftigen Verschlechterung des Tinnitus vorbeugen.
Tinnitus-Ursache Kiefergelenk und Trigeminus-Nerv: Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) & Co
Auch Fehlfunktionen des Kauapparates bzw. des mächtigen Trigeminus-Nervs, der die großen, starken Muskeln des Kauapparates versorgt, können einen Tinnitus verursachen.
Die renommierte US-amerikanische Hörforscherin Susan Shore von der University of Michigan konnte eindrucksvoll nachweisen, dass Impulse aus dem Trigeminusnerv direkt auf das zentrale Hörsystem einwirken – und dass eine Reizung des Trigeminusnervs einen Tinnitus auslösen kann.
Ein Übersprechen von Störungen des Trigeminus-Nervs bzw. der von diesem versorgten Muskeln auf die Hörbahn ist sowohl für die bereits erwähnten Schaltknoten im Stammhirn sowie für den sogenannten Ohrnervenknoten („Ganglion oticum“) belegt.
Zudem gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Trigeminusstörungen auch die Nährstoffversorgung im Innenohr beeinträchtigen und so Hörstörungen auslösen können. Dieser spezielle Fall wäre also eine Ausnahme, bei der die Hörstörung (auch) vom Ohr ausginge.
Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
Der Kauapparat wird in der Medizin auch „craniomandibuläres System“ genannt. In Bezug auf die Kaumuskulatur, die Kiefergelenke, den Zusammenbiss der Zähne usw. kann es zu diversen Erkrankungen oder Störungen kommen, die allesamt mit dem Überbegriff „craniomandibuläre Dysfunktion“ (= Funktionsstörung des Kauapparats) bezeichnet werden.
Es handelt sich dabei also nicht um ein ganz bestimmtes Krankheitsbild, sondern um eine Sammelbezeichnung für eine ganze Reihe verschiedener Beschwerden, die insgesamt weit verbreitet sind.
Typische Anzeichen für eine CMD sind Schmerzen in den Kaumuskeln oder Kiefergelenken, rätselhafte Zahnschmerzen, eine eingeschränkte Beweglichkeit des Unterkiefers, Knacken oder Reiben im Kiefergelenk, Fehlbiss (Zähne von Ober- und Unterkiefer lassen sich nur versetzt zusammenbringen) sowie Zähneknirschen (und dadurch bedingt ein übermäßiger Abrieb des Zahnschmelzes und empfindliche Zähne).
Eine Störung des Kauapparats kann auch Beschwerden in anderen Körperteilen auslösen. Dazu zählen etwa Kopfschmerzen, Ohrenschmerzen, Schwindel, Nacken- oder Schulterverspannungen, Rückenschmerzen oder Knieschmerzen.
Und eben Tinnitus.
Ursachen können zum Beispiel eine Verlagerung der Knorpelscheibe im Kiefergelenk, eine Fehlhaltung des Kopfes oder falsch sitzender Zahnersatz bzw. zu hohe Füllungen sein.
Weil Kiefer, Kopf und Becken und über bestimmte Nervenverbindungen miteinander verschaltet sind, kann die Ursache für eine CMD (und damit auch für den Tinnitus) beispielsweise auch in einer Fehlstellung der Lendenwirbelsäule oder schlechten Sitzhaltung liegen.
Eine große Rolle spielen in vielen Fällen auch psychische Faktoren wie chronischer Stress. Psychische Erkrankungen wie eine Depression oder Angststörung können CMD-Beschwerden – einschließlich Tinnitus – erheblich verschlechtern.
Eine verantwortungsvolle, seriöse Diagnose muss daher zwingend sowohl psychische Aspekte (individuelle Belastungen, Stress) als auch die gesamte Körperhaltung einschließen.
Entsprechend fachübergreifend muss ggf. – je nach Diagnose – auch die Behandlung erfolgen. Wird bei der Diagnose und Behandlung entsprechend sorgfältig und systematisch vorgegangen, lässt sich eine craniomandibuläre Dysfunktion häufig vollständig beseitigen.
Behandlungsmöglichkeiten
Genauso wie bei Halswirbelsäulenstörungen ist auch hier wichtig, dass die Beseitigung der Fehlfunktion so schnell wie möglich erfolgt. Die Deutsche Tinnitus-Liga empfiehlt, die Behandlung schon innerhalb der ersten Woche nach dem Auftreten der Ohrgeräusche aufzunehmen.
Erster Ansprechpartner ist der Zahnarzt oder Kieferorthopäde, der möglicherweise mit zahnärztlichen bzw. kieferorthopädischen Korrekturen helfen oder eine Aufbissschiene anpassen kann.
Die aufwändige Anpassung von Aufbissschienen – gern angeboten mit diversen Privatzahlerleistungen – ist für die Ärzte ein einträgliches Geschäft. Ein Nutzen der Aufbissschienen über den bloßen Schutz der Zähne hinaus ist allerdings wissenschaftlich nicht eindeutig belegt. (Mehr dazu unten in unserer Therapie-Übersicht.)
Daneben kommt eine physiotherapeutische, osteopathische oder chiropraktische Untersuchung in Frage, um etwaige Fehlhaltungen zu erkennen und ggf. zu korrigieren.
Im Fall einer Fehlhaltung muss es unbedingt darum gehen, eine gesündere Körperhaltung durch entsprechende Übungen nachhaltig in den Alltag zu integrieren. Im Sinne einer wirksamen Selbsthilfe sollten ggf. auch leicht erlernbare Dehn- und Entspannungsübungen – etwa für den Kiefer – vermittelt werden.
Von einer rein „passiven“ Kurzzeitbehandlung dagegen profitiert – überspitzt gesagt – meist nur der Behandler.
Ganz wichtig:
Falls Stress und innere Anspannung als wahrscheinlicher Grund für Beschwerden wie eine verspannte Kaumuskulatur oder Zähneknirschen ausgemacht werden, sollte sich die Behandlung nicht auf das „Pflaster“ einer Aufbissschiene beschränken.
Vielmehr gilt es dann, im Sinne einer nachhaltigen Besserung den Ursachen der Anspannung auf den Grund zu gehen und zu lernen, den Stress durch Entspannungsübungen (Autogenes Training, progressive Muskelentspannung), Yoga, Sport oder Bewegung gezielt abzubauen.
Auch das Einüben neuer Umgangsformen und Lösungstechniken für berufliche und private Belastungen – zum Beispiel durch eine kognitive Verhaltenstherapie – kann hier sehr hilfreich sein.
Ein gezielter Stressabbau bzw. eine systematische Entspannung sind gerade für Tinnitus-Betroffene ungeheuer wichtig. Denn Stress erhöht – immer – die Verstärkung im Hörsystem des Gehirns – was jegliches Ohrgeräusch lauter und störender macht.
Umgekehrt senkt eine gezielte Entspannung die Empfindlichkeit im Hörsystem, wodurch ein Tinnitus leiser wird. So forciert Entspannung den heilsamen Vorgang der Habituation, nach dem ein Tinnitus immer unwichtiger wird, bis man ihn schließlich weitgehend überhört.
Grenzen der Behandlung
Bei sehr vielen Tinnitus-Betroffenen finden Ärzte irgendeine Art von craniomandibulärer Dysfunktion. Das ist auch kein Wunder, denn Studien zufolge haben bis zu 80 Prozent aller Frauen und bis zu 50 Prozent aller Männer entsprechende Beschwerden!
Allerdings geht nur ein kleiner Teil aller Tinnitus-Fälle auf eine CMD zurück. Entsprechend führt die Behandlung einer CMD auch nur bei einer kleinen Minderheit der Tinnitus-Betroffenen zu einer Abschwächung des Tinnitus.
Dass ein Ohrgeräusch im Zuge einer solchen Behandlung sogar ganz abklingt, ist die große Ausnahme.
Voraussetzung für einen solchen Glücksfall ist in der Regel, dass der Tinnitus erst seit wenigen Tagen oder Wochen besteht und dass die CMD den Tinnitus tatsächlich nicht nur ausgelöst hat, sondern auch noch aufrechterhält, der Tinnitus sich also nicht bereits verselbständigt hat.
Wenn der Tinnitus zum Beispiel nach dem Einpassen eines neuen Zahnersatzes aufkam (ob sofort oder einige Tage bis Wochen später), kann eine zügige Korrektur durch den Zahnarzt das Ohrgeräusch möglicherweise zum Abklingen bringen.
Tritt der Tinnitus unmittelbar nach dem Zahnarztbesuch auf, muss aber nicht der Zahnersatz verantwortlich sein. Allein die große Belastung der Kiefermuskulatur und -gelenke durch das lange Offenhalten des Mundes kann einen Tinnitus auslösen. Der große Stress, den eine längere zahnärztliche Behandlung mit sich bringt, begünstigt dies.
Wenn der Tinnitus aber (wie in diesem Beispiel) durch eine bloß kurzzeitige, vorübergehende Störung des Kauapparats ausgelöst wurde, vermag im Nachhinein keine auch noch so umfassende Behandlung einer vermeintlichen CMD das Ohrgeräusch aufzulösen – weil schlichtweg keine anhaltende, den Tinnitus aufrecht erhaltende Dysfunktion vorliegt.
Häufiger als von einem Abklingen wird insgesamt von einer gewissen Verbesserung der Tinnitus-Beeinträchtigung berichtet. Auch hier handelt es sich aber um eine überschaubare Minderheit der Fälle.
Da an einer umfassenden CMD-Behandlung neben dem Zahnarzt auch ein Kieferorthopäde, Physiotherapeut, Osteopath und/oder Psychotherapeut beteiligt sein können, übersteigt der hohe Aufwand leider meist den Nutzen.
Längst nicht alle Beschwerden des Kausystems sind auch behandlungsbedürftig. Wenn dies aber nach Einschätzung eines kompetenten (und ehrlichen) Arztes der Fall ist, dann kann eine Behandlung Sinn machen – ganz unabhängig von einer möglichen Verbesserung des Tinnitus.
Zu bedenken ist hier aber, dass etwaige CMD-Beschwerden oft eine Folge des Tinnitus – und nicht dessen Ursache – sind. So äußert sich die Angst, Anspannung und Unruhe in Bezug auf einen als störend und bedrohlich empfundenen Tinnitus sehr häufig in Zähneknirschen oder einer verspannten Kaumuskulatur.
Dies kann den Tinnitus zusätzlich „triggern“, also lauter und aggressiver machen, was wiederum zu noch stärkeren Verspannungen oder einem noch stärkeren Zähneknirschen führt – und so weiter.
Schnell entsteht auf diese Weise ein Teufelskreis, der mit einer reinen CMD-Behandlung nicht zu durchbrechen ist. Stattdessen wäre es weitaus sinnvoller, das Tinnitus-Leiden (etwa mithilfe eines Tinnitus-Retrainings) nachhaltig abzubauen, anstatt mit einer aufwändigen CMD-Therapie bloß an Symptomen dieses Leidens „herumzudoktern“.
Auf jeden Fall gilt: Wenn ein Tinnitus schon seit vielen Monaten oder gar Jahren besteht, kommt die Behanndlung einer craniomandibulären Dysfunktion nur als Ergänzung in Frage.
Als eigentliche Tinnitus-Therapie sollte man (sofern sich keine anderen behandelbaren organischen Ursachen gefunden haben) einen „multimodalen“ Ansatz wählen, bei dem ein perfekt abgestimmter Maßnahmen-Mix hochwirksam die Tinnitus-Beeinträchtigung abbaut.
Dies ist insbesondere die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT), die etwas abgewandelt im deutschsprachigen Raum auch „Tinnitus-Bewältigungstherapie“ genannt wird und die mittlerweile allen Betroffenen auch als einfaches Selbsthilfeprogramm zur Verfügung steht.
Wenn das Ohrgeräusch durch Kopf- oder Kieferbewegungen lauter / leiser wird
Viele Tinnitus-Betroffene stellen fest, dass sie ihr Ohrgeräusch durch bestimmte Bewegungen oder Belastungen des Kopfes oder Kiefers beeinflussen können, zum Beispiel durch kräftiges Kauen, „Zähne-Zusammenbeißen“ oder weites Aufreißen des Mundes.
Oft lässt sich ein Tinnitus auch durch festes Drücken auf bestimmte Stellen von Kopf (z.B. Stirn), Hals oder Nacken kurzzeitig verändern. In seltenen Fällen gelingt dies sogar durch Bewegungen der Augen oder der Arme.
Tatsächlich ist dieses Phänomen weitaus verbreiteter, als Betroffene dies gemeinhin annehmen:
Eine Analyse verschiedener Forschungsarbeiten zu diesem Thema aus dem Jahr 2017 ergab, dass 60 bis 80 Prozent aller Tinnitus-Betroffenen ihr Ohrgeräusch auf diese Weise beeinflussen können!
Der Grund für einen solchen somatosensorisch beeinflussten oder „getriggerten“ Tinnitus ist der gleiche wie beim somatosensorisch verursachten Tinnitus:
Nervenimpulse aus dem Bewegungsapparat von Kopf, Nacken oder Schulter – insbesondere der vom dortigen Muskelgewebe ausgehenden Nervenbahnen – können durch bestimmte Verschaltungen im Gehirn auf das Hörsystem „übersprechen“ und so den Höreindruck verändern.
Typischerweise verändert sich der Tinnitus (bzw. dessen Wahrnehmung) dann in Lautstärke und/oder Tonhöhe. Das heißt, das Ohrgeräusch wird lauter oder leiser. Oder es hört sich höher oder tiefer an.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffene den Tinnitus auf diese Weise „modulieren“ können, ist Studien zufolge übrigens umso höher, wenn das Hörvermögen ansonsten weitgehend normal ist.
Untersuchung
Klarheit über das Vorliegen eines somatosensorisch beeinflussbaren Tinnitus kann eine Untersuchung schaffen, die von einem dafür qualifizierten HNO-Arzt oder Fachtherapeuten ausgeführt werden sollte.
Die Untersuchung muss in der Stille (z.B. im schallarmen Audiologie-Zimmer der Praxis) vorgenommen werden, damit man als Betroffene*r Veränderungen des Tinnitus auch gut wahrnehmen kann.
Dies sind wesentliche Bestandteile der Diagnostik, wie sie der HNO-Arzt Eberhard Biesinger vorschlägt:
- den Unterkiefer so weit wie möglich vor- und zurückschieben sowie nach links / rechts rechts zur Seite verschieben
- den Unterkiefer – mit der Hand umschlossen – nach oben bzw. hinten drücken
- den Unterkiefer – mit einem Daumen im Mund auf den Backenzähnen – nach unten drücken
- sanft von oben auf den Kopf drücken (und so einen leichten Druck auf die Halswirbelsäule aus üben)
- den Kopf seitlich mit beiden Händen umfassen und sanft nach oben ziehen
- mit der Hand auf die Stirn bzw. den Hinterkopf drücken, dabei der Kopfbewegung nach hinten bzw. vorn widerstehen
- den Kopf nach links / rechts drehen und dann jeweils ca. 20 Sekunden lang über die Schulter schauen
Reagiert Ihr Tinnitus auf solche oder ähnliche Bewegungen? Wichtig zu verstehen ist dann zweierlei:
1. Kein Zeichen für eine Erkrankung
Auch hier bedeutet das bloße Ansprechen des Tinnitus auf solche Kopf- oder Kieferbewegungen keineswegs, dass eine Funktionsstörung oder gar Erkrankung vorliegt.
Der Tinnitus bzw. die Tinnitus-Wahrnehmung kann auf solche körperlichen „Manipulationen“ reagieren, auch wenn überhaupt keine (irgendwie behandelbare) Störung vorliegt.
2. Beeinflussbarkeit ≠ Ursache
Und: Wenn ein Tinnitus durch Kopf- oder Kieferbewegungen veränderbar ist, kann daraus nicht geschlossen werden, dass er auch durch eine Störung etwa des Kiefergelenks oder der Halswirbelsäule verursacht wurde.
Auch bedeutet eine Veränderbarkeit nicht, dass der Tinnitus aktuell durch eine Fehlfunktion aufrechterhalten wird und daher durch die „richtige“ Behandlung zum Abklingen gebracht werden kann.
Denn eine somatosensorische Beeinflussbarkeit ist bei jedem Tinnitus möglich – auch wenn er ursprünglich durch völlig andere Faktoren wie z.B. Lärm, Schwerhörigkeit oder eine Mittelohrentzündung verursacht wurde!
Was ergibt sich daraus für die Erfolgsaussichten einer Behandlung? Macht eine Behandlung Sinn?
Erfolge möglich
Viele Tinnitus-Betroffene sind sich leider nicht über diese beiden wichtigen Einschränkungen im Klaren.
Auch weisen viele Behandler leider nicht darauf hin. So mancher Betroffene ergeht sich daher – mit falschen Hoffnungen und letztlich erfolglos – in einem monate- oder gar jahrelangen „Therapy-Hopping“.
Dennoch: Falls es bei Ihnen Anzeichen für einen somatosensorisch beeinflussten oder getriggerten Tinnitus gibt, macht es durchaus Sinn, dies einmal abklären zu lassen. Ob etwa eine Funktionsstörung oder Erkrankung besteht, kann schließlich nur eine individuelle Diagnostik klären.
Je nach Art der Beschwerden suchen Sie dazu am besten zunächst einen Arzt (HNO-Arzt, Orthopäde, Kieferorthopäde) auf. Dieser kann Ihnen dann ggf. eine Behandlung empfehlen.
Grundsätzlich gilt bei der Behandlung eines somatosensorisch beeinflussten Tinnitus das gleiche, was wir oben schon für den somatosensorisch verursachten Tinnitus festgestellt haben: Es gibt immer wieder Erfolge. Diese sind jedoch die Ausnahme, nicht die Regel.
Dass ein somatosensorisch beeinflusster Tinnitus durch eine bestimmte Behandlung ganz abklingt, kommt in der Praxis leider selten vor.
Wenn dies gelingt, dann in der Regel nur, wenn diese Behandlung recht kurzfristig nach dem Aufkommen des Tinnitus erfolgt UND wenn der Tinnitus tatsächlich durch Hörstörungen ausgelöst wurde, die vom Bewegungsapparat von Kopf, Schulter oder Nacken ausgingen.
Weitaus häufiger als von einem Abklingen wird von einer gewissen Besserung oder Linderung durch entsprechende Behandlungen berichtet – was dann natürlich ebenfalls erfreulich ist.
Leider gibt es für die Behandlung eines somatosensorischen Tinnitus kein Patentrezept bzw. eine „Patent-Behandlung“. Im Folgenden geben wir Ihnen einen Überblick über die Optionen.
Mögliche Behandlungen
Eine Behandlung kommt in Frage,
- wenn der Verdacht besteht, dass der Tinnitus durch Störungen des Bewegungsapparates von Kopf, Kiefer, Hals oder Nacken (mit-)ausgelöst worden ist und/oder
- wenn ein bestehender Tinntitus auf Bewegungen oder „Manipulationen“ dieses Bewegungsapparats reagiert.
Besonders geeignet sind die Physiotherapie, Osteopathie und Chirotherapie. Aber auch andere Behandlungsformen kommen in Frage, von lokalen Betäubungen über die Selbstmassage bis hin zu Qi Gong.
Wir geben Ihnen im Folgenden einen Überblick. Bitte beachten Sie aber, dass hiermit keine allgemeine Empfehlung verbunden ist.
Ob eine dieser Behandlungsmethoden in Ihrem persönlichen Fall eine gewisse Erfolgsaussicht birgt – und wenn ja, welche Methode –, das kann nur nach eingehender Diagnostik von einem qualifizierten Facharzt oder Therapeuten gemutmaßt werden.
Physiotherapie
Ein Physiotherapeut behandelt körperliche Funktions- und Bewegungsstörungen. Die beiden wichtigsten Verfahren der Physiotherapie sind die Krankengymnastik und die manuelle Therapie.
Gerade letztere kann bei einem somatosensorischen Tinnitus Störungen von Muskeln und Gelenken im Kopf-Hals-Bereich mindern und so auch davon ausgelöste Nervenreizungen und -blokaden lösen.
Generell zielt die Physiotherapie darauf ab, Schmerzen zu lindern, die betroffenen Muskelpartien wieder beweglicher zu machen und die Muskulatur zu stärken. Eine gute physiotherapeutische (oder ostheopathische) Behandlung ist dabei immer nachhaltig ausgerichtet.
Dazu gehört eine Analyse und – wenn erforderlich – Korrektur Ihrer Körperhaltung und Ihrer Bewegungsmuster (z.B. Gehen, Tragen), sowohl in typischen privaten Situationen als auch am Arbeitsplatz.
Auch vermittelt ein Physiotherapeut krankengymnastische Übungen, die speziell auf Ihren Fall abgestimmt sind – und die Sie zuhause auch unbedingt regelmäßig anwenden sollten.
Ergänzend können in der Physiotherapie auch sogenannte „physikalische“ Maßnahmen zum Einsatz kommen, zum Beispiel Anwendungen mit Wärme oder Kälte.
Die Physiotherapie ist eine Regelleistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Ihr HNO-Arzt (oder Hausarzt, Neurologe, etc.) kann Ihnen ein entsprechendes Rezept ausstellen.
Osteopathie
Auch das alternativmedizinisches Verfahren der Ostheopathie behandelt Störungen und Schmerzen des Bewegungsapparats, zum Beispiel Kiefergelenksprobleme oder Nackenverspannungen.
Am Anfang steht ein ausführliches Vorgespräch, in dem der ganze Mensch mit seiner Krankengeschichte in den Blick genommen wird. Dann ertastet der Therapeut mit seinen Händen behutsam Blockaden in Gelenken, Muskulatur und Gewebe.
Denn auf solchen Blockaden – so die Annahme – können eine Vielzahl von Beschwerden und Erkrankungen zurückgehen. Auch die Behandlung dieser Blockaden erfolgt auf sanfte Weise mit den Händen.
Die Osteopathie ist keine Regelleistung der GKV. Viele Krankenkassen übernehmen inzwischen aber zumindest einen Teil der Kosten. Rufen Sie einfach bei Ihrer Kassen an und erkundigen Sie sich.
Chiropraktik
Ein Chiropraktiker ist ein Arzt oder Heilpraktiker, der über eine Ausbildung in Chiropraktik verfügt. Mit speziellen Handgriffen vermag er, Blockaden vor allem der Wirbelsäule zu lösen.
Die von diesen Blockaden ausgehenden Schmerzen und Verspannungen lassen sich auf diese Weise häufig in kurzer Zeit vollständig beseitigen oder zumindest stark lindern. Zugleich wird die Beweglichkeit der Wirbelsäule und das gesunde Zusammenspiel von Gelenken und Muskulatur verbessert.
Viele Patienten mit lang anhaltenden Nacken- oder Rückenschmerzen erfahren durch eine chiropraktische Behandlung dramatische Verbesserungen. (Gleichwohl sind die Erfolgsaussichten in Bezug auf den Tinnitus – ebenso wie bei der Physiotherapie und Osteopathie – überschaubar.)
Die Chiropraktik geht deutlich „handfester“ zur Sache als die sanfte Osteopathie, die Behandlung verläuft aber in aller Regel schmerzfrei.
Da die Behandlung jedoch nicht völlig risikofrei ist, raten wir dazu, bei Tinnitus nur erfahrene Chiropraktiker aufzusuchen. Zudem sollte die Behandlung so behutsam wie möglich erfolgen.
Aufbissschiene
Zahnärzte oder Kieferorthopäden verpassen Tinnitus-Betroffenen gern eine Aufbissschiene (auch als „Beißschiene“, „Zahnschiene“ oder „Knirscherschiene“ bekannt). Trotz einer Zuzahlung der Krankenkasse werden dafür meist mehrere hundert Euro fällig.
Bei deutlichen Anzeichen von Zähneknirschen wie einer übermäßigen Abnutzung der Zähne macht eine solche Schiene Sinn. Sie verhindert dann einen weiteren Abrieb des Zahnschmelzes – vor allem in der Nacht, wenn sich das Zähneknirschen nicht kontrollieren lässt.
Andere angepriesene Wirkungen – wie eine Entlastung der Kiefergelenke bzw. Kaumuskulatur oder eine Korrektur der Kieferstellung – werden in der Praxis leider in vielen Fällen nicht erreicht. (Mitunter führt das Fremdkörpergefühl im Mund auch zu einem stärkeren Knirschen!)
Nennenswerte Auswirkungen auf den Tinnitus (oder gar ein Abklingen des Ohrgeräusches) sind von einer Aufbissschiene nicht zu erwarten, schon gar nicht kurzfristig.
Gleichwohl ist mittel- und langfristig eine gewisse Linderung der Tinnitus-Belastung denkbar, falls die Schiene die Intensität des Zähneknirschens und etwaige Muskelschmerzen mindern kann und diese Faktoren den Tinnitus nennenswert getriggert haben. (Erfahrungsgemäß ist dies aber die Ausnahme.)
Zu bedenken ist, dass eine Aufbissschiene naturgemäß eher symptomatisch wirkt. Das heißt, sie mindert in erster Linie die Folgen des Zähneknirschens, insbesondere den Zahnverschleiß.
An der permanenten Anspannung, die diesem Problem zugrunde liegt, an dem Stress, den man an seinem Gebiss „abbarbeitet“, ändert die Schiene natürlich überhaupt nichts.
Grundsätzlich kommt eine Beißschiene auf keinen Fall als alleinige und isolierte „Tinnitus-Behandlung“ in Frage. Vielmehr handelt es sich um eine mögliche Zusatzmaßnahme.
Medikamente
Für eine (vorübergehende) medikamentöse Therapie kommen vor allem muskelentspannende oder schmerzlindernde Arzneien in Betracht.
Sinnvoll ist dies hauptsächlich dann, wenn das Ohrgeräusch im Zusammenhang mit einer besonderen Beanspruchung, Schädigung oder akuten Erkrankung des Bewegungsapparates aufgekommen ist, z.B. nach einem Unfall, einer Operation oder zahnärztlichen Behandlung.
Weitere Verfahren
Die folgenden Verfahren, die ebenfalls häufig als Behandlung für einen somatosensorischen Tinnitus angeboten werden, sind kein Ersatz für die gerade beschriebenen funktionellen Therapien. Wir führen sie hier auf, empfehlen sie aber ausdrücklich nicht.
Akupunktur
Bei diesem aus der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) stammenden Therapieverfahren soll mit feinen Akupunkturnadeln der Energiefluss des Körpers reguliert und wieder ins Gleichgewicht gebracht werden.
Bei Verdacht auf einen somatosensorischen Tinnitus kommt die Akupunktur zur Behandlung von Muskelverhärtungen, Nervenreizungen oder Schmerzen in Betracht. So könnte der Trigeminusnerv gezielt per Mundakupunktur behandelt werden.
Allerdings: In der Praxis sind bei Tinnitus Behandlungserfolge auf dem Wege der Akupunktur selten. Eine allgemeine Akupunkturbehandlung ohne konkreten Ansatzpunkt ist nicht sinnvoll.
Neuraltherapie
Bei dieser umstrittenen alternativmedizinischen Methode, die in den 1920er Jahren von den deutschen Medizinern Ferdinand und Walter Huneke entwickelt wurde, sollen durch eine gezielte örtliche Betäubung („Anästhesie“) mit Spritzen etwaige „Fehlinformationen“ aus dem jeweiligen Gewebe an das Gehirn unterbrochen werden.
Auch kann die lokale Betäubung mit Mitteln vorübergehend Schmerzen unterbinden, was – so die Annahme – die Funktion und den Stoffwechsel in dem jeweiligen Gewebe normalisieren könnte.
In Bezug auf einen Tinnitus ist damit die vage Hoffnung verbunden, dass sich so im Hörsystem wieder eine „normale“ Nervenaktivität entwickelt.
Eine Betäubung des Trigeminusnervs käme in Betracht, wenn es deutliche Hinweise darauf gibt, dass der Tinnitus durch eine Störung dieses Nervs verursacht worden sein könnte. Diese Methode wurde in Deutschland maßgeblich durch Dr. Eberhard Biesinger vom HNO-Zentrum Traunstein eingeführt. Biesinger berichtete 2019 von „oft überraschend guten Behandlungserfolgen“. Unabhängige Studien liegen allerdings nicht vor.
Bitte beachten Sie, dass von den verschiedenen Techniken der Neuraltherapie einzig die therapeutische örtliche Betäubung („Lokalanästhesie“) zur Schmerztherapie halbwegs wissenschaftlich anerkannt ist.
Andere Techniken wie die „Störfeld-Therapie“ basieren auf vollkommen unwissenschaftlichen Annahmen und stellen keine seriöse Behandlungsmethode dar. Wenn überhaupt, mag eine Neuraltherapie allenfalls an spezialisierten Tinnitus-Zentren einen Versuch Wert sein. Auch dort sollten die Hoffnungen aber nicht zu hoch gehängt werden.
Neurostimulation
Bei der „bimodalen Neurostimulation“ werden zugleich das Hörsystem über bestimmte Töne sowie die Zunge über elektrische Impulse stimuliert. Dieser Ansatz wird in Deutschland von der Firma Neuromod mit dem Produkt „Lenire“ vermarktet – zum stolzen Preis von rund 2700 Euro.
Neuromod zieht für „Lenire“ alle PR-Register und wirbt mit vermeintlich enormen Behandlungserfolgen. Den verheißungsvollen Aussagen liegen jedoch nur zwei Studien zugrunde, die hauptsächlich von eigenen Mitarbeitern durchgeführt wurden.
Die viel zitierte Hauptstudie weist dabei dermaßen eklatante Mängel auf, dass sie nach unserer Einschätzung nicht als seriös gelten kann. Auch der wissenschaftliche Beirat der Deutschen Tinnitus-Liga bemängelt die Studie und rät von der bimodalen Neurostimulation ab.
Fazit
Unser Ratgeber zum somatosensorischen Tinnitus (übrigens der mit Abstand umfassendste und systematischste im gesamten Internet) hat zweierlei deutlich gemacht:
Erstens: Dank großartiger Grundlagenforschung lässt sich mittlerweile sehr gut erklären und verstehen, wie Störsignale aus Halswirbelsäule oder Nackenmuskulatur, Kiefer oder Trigeminus-Nerv ein Ohrgeräusch auslösen oder beeinflussen können.
Zweitens: Daraus folgt jedoch leider kein zuverlässig erfolgreicher Behandlungsansatz. Behandlungserfolge kommen immer wieder vor, bleiben jedoch die Ausnahme.
Bei deutlichen Hinweisen auf eine somatosensorische Komponente des Tinnitus raten wir grundsätzlich zumindest zu einer Abklärung.
Das Ansinnen, auch ohne klare Diagnose und entsprechende Therapieempfehlung möglichst viele angebotene Behandlungen auszuprobieren, mündest allerdings meist in eine ebenso kostspielige wie frustrierende Odyssee.
Bitte beachten Sie aber: Die allgemeinen Aussagen in diesem Text sagen nichts darüber aus, wie es sich in Ihrem persönlichen Fall verhält! Aufschluss darüber kann nur eine individuelle Untersuchung geben.
Nutzen Sie unseren Ratgeber daher bitte nicht zur Selbstdiagnose, sondern besprechen Sie Ihren Fall mit einem einem Facharzt oder entsprechenden Therapeuten.
Systematisch genesen
Falls Sie in dieser speziellen Richtung nicht vorankommen und Sie die Genesung vom Tinnitus-Leiden ganz systematisch angehen wollen, sei Ihnen Das Große Tinnitus-Heilbuch ans Herz gelegt.
Auf dem neuesten Stand von Forschung und Therapie bündelt dieses Buch die erwiesenermaßen wirksamsten Heilungsstrategien zu einem optimalen Selbsthilfeprogramm.
Mit den besten Wünschen
JS
Quellen (Auszug)
- Biesinger, Eberhard et al.: Somatosensorischer Tinnitus. In: HNO, Ausgabe 4/2015, 266-271
- Biesinger, Eberhard: Tinnitus und Halswirbelsäule: Der somatosensorische Tinnitus. In: Tinnitus Forum, 2/2019
- Ralli, Massimo; Greco, Antonio; Turchetta, Rosaria; Altissimi, Giancarlo; de Vincentiis, Marco; Cianfrone, Giancarlo: Somatosensory tinnitus: Current evidence and future perspectives. In: Journal of International Medical Research, 6/2017, 45(3) 933-947
- Neuhuber WL, Bankoul S: A cervical primary afferent input to vestibular nuclei as demonstrated by retrograde transport of wheat germ agglutinin-horseradish peroxidase in the rat. In: Experimental Brain Research 79 (1990): 405–411
- Pfaller K, Arvidsson J: Central distribution of trigeminal and upper cervical primary afferents in the rat studied by anterograde transport of horseradish peroxidise conjugated to wheat germ agglutinin. In: Journal of Comparative Neurology 268 (1988): 91-108
- Moßhammer, Dirk; Weinschenk, Stefan; Joos, Stefanie: Therapeutische Lokalanaesthesie zur Behandlung muskuloskelettaler Erkrankungen – ein systematisches Review und Meta-Analyse, 2009
- Firscher, Lorenz; Pfister, Mirjam: Wirksamkeit der Neuraltherapie bei überwiesenen Patienten mit therapieresistenten chronischen Schmerzen. In:Schweizerische Zeitschrift für Ganzheitsmedizin / Swiss Journal of Integrative Medicine, February 2010, 19(1):30-35
- Fischer L, Barop H, Maxion-Bergemann S. Health Technology Assessment. Neuraltherapie nach Hune- ke. Im Rahmen des Programms „Evaluation Komplementärmedizin (PEK)“ des Schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit, Januar 2005
- Joos S, Musselmann B, Szecsenyi J. Integration of complementary and alternative medicine into family practices in Germany: results of a national survey. Evidence-based Complementary and Alternative Medicine 2009; Mar 17
- Staal JB, de Bie R, de Vet HC, Hildebrandt J, Nelemans P. Injection therapy for subacute and chronic low-back pain. Cochrane Database of Systematic Reviews 2008, WIssue 3. Art. No.: CD001824. DOI: 10.1002/14651858.CD001824.pub3.
- Kempe, Sabrina / Netdoktor.de: Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), 2020: https://www.netdoktor.de/krankheiten/cmd/
- Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik- und therapie: „Begriffsbestimmungen: Funktionsstörung, Dysfunktion, craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), Myoarthropathie des Kausystems (MAP)“ (Stand: Januar 2016), unter https://www.dgzmk.de
- Gemeinsame Wissenschaftliche Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und –therapie et al.: „Zur Therapie der funktionellen Erkrankungen des kraniomandibulären Systems“ (Stand: November 2015), unter: https://www.dgzmk.de
- Köneke C. et al. „Tinnitus bei craniomandibulärer Dysfunktion“. Manuelle Medizin, Jahrgang 43, Ausgabe 6, 2005
- H. Forssell, E. Kalso, P. Koskela, R. Vehmanen, P. Puukka, P. Alanen: Occlusal treatments in temporomandibular disorders: a qualitative systematic review of randomized controlled trials. In: Pain. Volume 83, Issue 3, S. 549–560.
- Handlungsempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM): Nackenschmerzen (6/2016)
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