Kann Tinnitus bald „abgeschaltet“ werden? Der umtriebige Tech-Milliardär Elon Musk jedenfalls hat angekündigt, lästige Ohrgeräusche heilen zu wollen. Es gebe „definitiv“ Grund zur Hoffnung, dass dies mit dem Gehirn-Implantat seiner Firma Neuralink möglich werde, twitterte Musk. Möglicherweise sei dies bis zum Jahr 2027 machbar.
Im Mai 2023 erteilte die US-Zulassungsbehörde FDA überraschend die Erlaubnis für eine erste klinische Studie am Menschen. Neuralink will seine futuristische Technologie allerdings zunächst an schwerst Gelähmten testen. Wie realistisch ist nun eine Tinnitus-Heilung mit dem Gerät? Wir gehen dieser Frage hier nach.
Auch wenn Musk für großspurige Ankündigungen bekannt ist und die Umsetzung seiner ehrgeizigen Pläne regelmäßig zwei bis drei Mal länger dauert: Unbestritten hat der Tech-Visionär schon viel erreicht.
Mit Tesla machte er die früher verpönten Elektroautos im Alleingang „sexy“ und beschleunigt so den Übergang zur Elektromobilität wohl um mindestens zehn Jahre. Mit seinem Raumfahrt-Unternehmen SpaceX revolutionierte er nach jahrzehntelangem Stillstand die Raketentechnologie und arbeitet nun ernsthaft an einer Besiedlung des Mars.
Jetzt nimmt Musk eine „Volkskrankheit“ ins Visier, von der Studien zufolge bis zu zehn Prozent der Bevölkerung betroffen sind: anhaltende Ohrgeräusche, in der Medizin Tinnitus genannt, die viele Betroffene stark stören und so in Ihrem Alltagsleben erheblich beeinträchtigen.
Neuralink als Tinnitus-Behandlung?
Am 24. April 2022 kam der Tweet, der weltweit Zigmillionen Menschen die Aussicht auf ein Wiedererlangen der verlorenen Stille gibt:
„Irgendeine Hoffnung, Tinnitus zu heilen?“, fragte ein Twitter-Nutzer Elon Musk in Bezug auf dessen Neuralink-Projekt. „Definitiv“, antwortete Musk direkt. „Vielleicht in weniger als 5 Jahren.“
Schon die aktuelle Neuralink-Version verfüge als „neuronales Lese/Schreib-Gerät“ über rund 1000 Elektroden, dozierte Musk. Für Tinnitus seien „wahrscheinlich“ deutlich weniger erforderlich. „Künftige Generationen von Neuralinks werden die Anzahl der Elektroden noch um ein Vielfaches steigern.“
Doch ist die Heilung von Ohrgeräuschen wirklich nur eine Frage der „Anzahl von Elektroden“? Und ließe sich das kühne Vorhaben tatsächlich innerhalb von fünf Jahren – also bis 2027 – verwirklichen?
So funktioniert Neuralink
Das 2016 begonnene Neuralink-Projekt arbeitet im Kern an einem Gehirn-Computer-Interface mit extrem hoher Bandbreite, das Nervenaktivität sowohl „auslesen“ als auch „schreiben“ kann. Noch erscheint dies wie Science Fiction. Milliardär Musk treibt die Sache aber sehr ernsthaft und mit großem finanziellen Aufwand voran.
Sein selbst erklärtes Fernziel: Den Menschen mit den Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz zu verschmelzen – um nicht von dieser ausgebootet zu werden.
Erst einmal zielt die Technologie aber „nur“ auf bedeutende medizinische Anwendungen. So soll Neuralink Menschen mit neurologischen Erkrankungen wie Querschnittslähmung, Alzheimer, Parkinson, Epilepsie oder Autismus helfen. Sogar Depressionen, Fettleibigkeit und Schizophrenie will Musk behandeln.
Das aktuelle Neuralink-Implantat ist etwa so groß wie eine Münze und wird mit einem eigens dafür entwickelten Chirurgie-Roboter in die Schädeldecke eingesetzt.
Ultradünne Kabel, viel dünner als ein Haar, verbinden den Chip dann über Elektroden mit tausenden von Neuronen (Nervenzellen), und zwar derzeit ausschließlich im Kortex, der äußeren Schicht des Gehirns.
Dank des Präzisions-Roboters soll ein Neurochirurg die Elektroden ohne nennenswerte Gewebeschäden platzieren können. Die Kommunikation mit den Neuronen übernimmt ein externer Computer, der per Bluetooth mit dem Neuralink verbunden ist.
Eines Tages, so kündigte Elon Musk bereits im vergangenen Jahr an, könne mit dieser Technologie Musik direkt in das menschliche Gehirn „gestreamt“ werden.
Eine realistische Chance
Dass er nun auch das weitverbreitete Phänomen Tinnitus behandeln möchte, ist durchaus naheliegend.
Schließlich begann die Entwicklung von Nervenimplantaten vor mehr als einem halben Jahrhundert mit dem Hörsinn.
„Nervenimplantate helfen Menschen seit den frühen 1960er Jahren, als das erste Cochlea-Implantat einem Schwerhörigen eingesetzt wurde. Seitdem gab es große Fortschritte“, erläutert David Tuffey, Experte für Cyber-Sicherheit an der australischen Griffith University, in einer Analyse von Musks Ankündigung.
Tatsächlich gehören Cochlea-Implantate, die hochgradig schwerhörigen und gehörlosen Menschen das Hören ermöglichen, in Deutschland fast schon zur Standardversorgung.
Äußerer Schall wird dabei in elektrische Impulse umgewandelt, die dann über Elektroden in der Hörschnecke auf den Hörnerv übertragen werden. Wichtigste Voraussetzung ist, dass der Hörnerv intakt ist.
Elon Musk lässt nun bereits Dutzende Top-Neurowissenschaftler, Mediziner, Ingenieure und Computerspezialisten daran arbeiten, auf noch weitaus komplexere Weise direkt mit dem Gehirn zu kommunizieren.
Für eine gezielte Tinnitus-Behandlung mit dem Neuralink wäre es allerdings erforderlich, genau diejenigen Neuronen zu finden und anzusprechen, welche die Wahrnehmung des „Phantomgeräuschs“ verursachen.
Das Problem: Es gibt immerhin rund 85 Milliarden (85.000.000.000) Neuronen im Gehirn – mit 100 Billionen (100.000.000.000.000) Verbindungen untereinander. Nicht ohne Grund gilt das menschliche Gehirn als die komplexeste biologische Struktur der Welt.
Experten zweifeln denn auch stark an Musks Zeitplan – allerdings nicht an dem ungeheuren Potenzial der Technologie. Denn die Wissenschaft hinter Neuralink ist unbestritten.
Paul Nuyujukian, Direktor des Brain Interfacing Laboratory an der Stanford University, sagt etwa: „Wir befinden uns am Übergang zu einem kompletten Paradigmenwechsel.“ Neuralink habe das Potenzial, medizinische Behandlungen völlig zu transformieren. „Nicht nur für Schlaganfall, Lähmungen und degenerative Bewegungserkrankungen, sondern für so ziemlich jede andere Art von Gehirnerkrankung.“
Ob das Neuralink-Projekt sich bereits konkret mit der Möglichkeit der Tinnitus-Behandlung beschäftigt, unklar. Eine solche Behandlung könnte aber prinzipiell eine der ersten praktischen Anwendungen werden.
Schließlich muss dafür keineswegs in den Tiefen des Gehirns „im Nebel“ gestochert werden. Die entscheidende Hirnregion ist bekannt, relativ klein und in Reichweite des Roboters. Es handelt sich um den auditiven Kortex, ein spezieller Bereich der Großhirnrinde.
Dort – und nicht im Ohr – entsteht der Tinnitus, meist in Reaktion auf Hörstörungen. Dort „funkt“ das Phantomgeräusch in Form einer andauernden „Überbeschäftigung“ von Neuronen. Und dort, genauer gesagt im sogenannten Hörfeld, findet die bewusste Wahrnehmung des Tinnitus statt.
In Forschungseinrichtungen kann die Tinnitus-Aktivität schon heute mit speziellen Tomographie-Verfahren nachgewiesen und sogar recht genau im Hörfeld lokalisiert werden. Sogar auf die Art des Geräuschs (Piepen, Rauschen etc.) und seine Lautstärke lässt sich aus der Aktivität im Hörfeld schließen.
Erste Erfolge – und tote Affen
Für die Entwicklung des Neuralinks mussten zunächst Ratten und Schweine, dann Affen den Kopf hinhalten.
Im April 2021 wartete das Unternehmen mit einem spektakulären Video auf, in dem ein achtjähriger Makake namens Pager das simple Videospiel Pong (eine Art Tennis) steuert – und zwar nur mit der Kraft seiner „Gedanken“!
Der Affe hatte dafür zunächst gelernt, das Spiel per Hand mit einem gewöhnlichen Joystick zu lenken. Zur Motivation erhielt er als Belohnung für jeden richtigen Move einen Schluck Banana-Smoothie.
Das Neuralink-System wiederum lernte über tausende Elektroden im motorischen Kortex des Affen, welche Nervenaktivität jeweils mit seinen Bewegungen (rechts, links, oben usw.) im Videospiel einherging.
Am Ende konnte Pager das Spiel mit verblüffender Präzision ganz ohne Joystick steuern. Allein über den Neuralink, dessen Algorithmus die beabsichtigten Spiel-Bewegungen des Affen in Echtzeit auslas.
Dies war der erste Machbarkeitsbeweis der Neuralink-Technologie. Auf ähnliche Weise sollen gelähmte Menschen bald Computer oder Smartphones bedienen können.
Von der Heilung komplexer Erkrankungen des menschlichen zentralen Nervensystems ist Neuralink allerdings noch weit entfernt.
Noch steckt die Technologie in den Kinderschuhen – und ist hochriskant. Erst im Februar 2022 wurde anhand interner Unterlagen aufgedeckt, dass die bis dato 23 Versuchsaffen von Neuralink schwere Leiden ertragen mussten. Die meisten Affen verstarben bzw. mussten eingeschläfert werden.
Start frei für Menschenversuche
Umso überraschender war es, dass die US-Zulassungsbehörde FDA im Mai 2023 grünes Licht für erste Versuche am Menschen gab.
Am 19. September 2023 schließlich hat Neuralink mit der Rekrutierung für die allererste klinische Studie am Menschen begonnen. Eingeladen sind mutige Gelähmte, die entweder von einer Queerschnittslähmung oder von der fortschreitenden, bislang stets tödlich verlaufenden Nervenerkrankung ALS (amyotrophe Lateralsklerose) betroffen sind.
Sechs Jahre sind für die Studie veranschlagt. Wie viele Versuchspersonen die FDA dafür zuließ, war zunächst nicht bekannt. Aufgrund erheblicher Sicherheitsbedenken der Behörde sollen es aber weniger als zehn Probanden sein.
Eine Frage der Zeit
Auch eine mögliche Tinnitus-Heilung rückt damit näher. Falls Neuralink wirklich an diesem speziellen Anwendungszweck interessiert ist, ließe sich dieser freilich zunächst anhand von Tierversuchen erproben.
(So traurig das Leiden von Tieren für die medizinische Forschung auch ist: Auch heutige Behandlungen wie die Tinnitus-Retraining-Therapie oder Tinnitus-Bewältigungs-Therapie gehen auf Grundlagenforschung zurück, die ohne Tierversuche, insbesondere an Mäusen, nicht möglich gewesen wäre.)
Aller Voraussicht nach ist die Frage nicht, ob, sondern wann Tinnitus mithilfe moderner Neurotechnologie wie Neuralink behandelt werden kann. Das ist eine wunderbare Nachricht. Denn es nimmt jahrelang anhaltenden Ohrgeräuschen, die in der Regel nicht mehr abklingen, ihre Endgültigkeit.
Schon in der Erstausgabe meines „Großen Tinnitus-Heilbuchs“ im Jahr 2017 merkte ich an, dass Ohrgeräusche angesichts der rasanten Entwicklung der Neurowissenschaft wahrscheinlich eines Tages „abgeschaltet“ werden können.
Heute stehen die Aussichten besser denn je, dass Tinnitus-Betroffene in Zukunft mit einer gezielten High-Tech-Behandlung zurück zur Stille finden können.
Noch sind aber viele Fragen offen: Soll Tinnitus geheilt werden, indem die vielen überaktiven Neuronen im Hörfeld blockiert oder abgeschaltet werden? Wie soll Neuralink das anstellen? Welche Folgen hätte das für das Hören?
Oder ließen sich die „Tinnitus-Neuronen“ sogar wieder in den Ruhezustand versetzen, sodass sie nach einer Art „Reset“ normal weiterarbeiten? Wie sicher ist der Eingriff? Welche Nebenwirkungen kann es geben?
Wann die Neuralink-Prozedur tatsächlich praktisch verfügbar wird, was sie dann kostet und ob deutsche Krankenkassen sie irgendwann bezahlen, steht noch in den Sternen. „Es wäre klug, keine falschen Hoffnungen für ein erschwingliches Implantat in naher Zukunft zu hegen“, sagt auch David Tuffey.
Selbst wenn Neuralink in einigen Jahren – hoffentlich – erste Erfolge bei der Tinnitus-Therapie vermelden kann: Wahrscheinlich werden danach noch viele weitere Jahre vergehen, bis das Verfahren ausgereift ist und schließlich zugelassen wird.
Wer heute unter einem Tinnitus leidet, sollte auf jeden Fall nicht die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte mit Warten verbringen.
Zumindest ein weitreichendes Genesen vom Tinnitus-Leiden, das ja das eigentliche Problem darstellt, ist schon heute möglich.
Auch dies verdanken wir bahnbrechender neurowissenschaftlicher Forschung, aus der etwa die Tinnitus-Retraining-Therapie oder die daraus entstandene Tinnitus-Bewältigungs-Therapie hervorgegangen ist.
Quellen
- David Tuffley: Elon Musk claims his Neuralink brain chip could ‘cure’ tinnitus in 5 years. But don’t hold your breath. In: The Conversation, 4.5.2022
- Abishek Umashankar: Can Neuralink be Effective For Bionic Hearing? In: The Hearing Journal, 3.12.2020
- Hannah Ryan: Elon Musk’s Neuralink confirms monkeys died in project, denies animal cruelty claims. In: CNN Business, 17.2.2022
- Isobel Asher Hamilton: Animal-rights group says monkeys used in experiments for Elon Musk’s Neuralink were subjected to ‚extreme suffering‚. In: Business Insider, 10.2.2022
- Kari Paul, Maanvi Singh: Elon Musk’s brain implant company is approved for human testing. How alarmed should we be? In: The Guardian, 4.6.2023
- Mariam Sunny: Musk’s Neuralink to start human trial of brain implant for paralysis patients. Reuters, 19.9.20223
- Rachel Levy; Marisa Taylor: U.S. regulators rejected Elon Musk’s bid to test brain chips in humans, citing safety risks. A Reuters special report, 2.3.2023
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