Seit einiger Zeit sorgt eine Studie aus den USA für Aufsehen, die vermeintlich den Nutzen der Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) in Zweifel zieht. Dabei zeigte die Studie, dass allein die ursprünglichen Hauptbestandteile dieser Therapie – Aufklärung und Beratung sowie Klangtherapie – die Tinnitus-Beeinträchtigung enorm abbauen und die Lebensqualität nachhaltig steigern. Mithilfe spezieller Noiser-Geräte konnten die Studienteilnehmer ihre Genesung zudem rapide beschleunigen.
Die Deutsche Tinnitus-Liga verbreitet jedoch die abstruse Falschinformation, „die TRT“ wirke laut der Studie „nicht besser als eine Placebobehandlung“. Wie kann das sein?
Da uns immer wieder Anfragen von irritierten Tinnitus-Betroffenen, Ärzten und Therapeuten zu diesem Thema erreichen, gehen wir diesem spannenden Fall hier für Sie auf den Grund.
Was durch unsere akribische Recherche zum Vorschein tritt, wird Ihnen wahrscheinlich die Sprache verschlagen und Ihr Vertrauen in die Tinnitus-Liga nachhaltig erschüttern. (Und wer die betreffende Studie schon zu kennen glaubt, wird sie gleich in einem völlig neuen Licht sehen.)
Was die Studie wirklich ergab
Die international nur als Tinnitus Retraining Therapy Trial (TRTT) bekannte Studie ist deshalb so bedeutend, weil es sich um die allererste sogenannte „Phase-III-Studie“ zu einer Tinnitus-Behandlung überhaupt handelt.
Es geht hier also um eine sehr aufwändige, besonders aussagekräftige Untersuchung. Zugleich hat wohl nie zuvor eine Tinnitus-Studie derart unterschiedliche Bewertungen hervorgerufen.
In den USA und Großbritannien wurde die Studie überwiegend als Beweis dafür verstanden, dass die dort bevorzugten Behandlungsmaßnahmen – Aufklärung und Beratung („Counseling“) sowie Klangtherapie („Sound Therapy“ bzw. „Sound Enrichment“) – in verschiedenen Varianten erstaunlich gut helfen.
Die American Tinnitus-Association (ATA) titelte zum Beispiel in ihrer Zeitschrift „Tinnitus Today“ (2/2019): „Tinnitus-Retraining-Therapie-Studie belegt die Wichtigkeit von Beratung und Klanganreicherung“.
Bevor wir Ihnen gleich die für jeden Tinnitus-Betroffenen und -Behandler bedeutsamen Ergebnisse der Studie vorstellen, machen wir uns kurz das Wirkprinzip der untersuchten Behandlung klar:
Was ist die Tinnitus-Retraining-Therapie?
Die Tinnitus-Retraining-Therapie zielt auf eine Habituation – das heißt ein Unwichtigwerden und Überhören – des Ohrgeräusches. Betroffene „verlernen“ die körperliche und psychische Stressreaktion auf den Tinnitus, die im Zentrum jedes Tinnitus-Leidens steht und typische Folgeerscheinungen wie innere Unruhe, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Niedergeschlagenheit, Ängste und Sorgen oder sozialen Rückzug nach sich zieht.
Im Zuge der TRT verliert das Ohrgeräusch seinen bedrohlichen Charakter und wird einem zunehmend gleichgültig. Am Ende soll der Tinnitus kaum noch – bestenfalls gar nicht mehr – stören und im Alltag kaum noch bewusst wahrgenommen werden. (In manchen Fällen klingt ein Tinnitus im Zuge einer TRT auch ganz ab.)
Die TRT wurde von dem Neurophysiologen Pawel J. Jastreboff und dem Audiologen Jonathan W.P. Hazell entwickelt und basiert auf Grundlagenforschung über die Mechanismen der Tinnitus-Verarbeitung im Gehirn.
In ihrer ursprünglichen Form setzt die TRT auf zwei Säulen:
- Ein ausgefeiltes Counseling baut Unsicherheit und Ängste ab, macht die Tinnitus-Problematik begreifbar und handhabbar – und zeigt die realistische Perspektive eines guten Lebens trotz Tinnitus auf.
- Eine spezielle Klangtherapie dämpft systematisch die Tinnitus-bezogene Nervenaktivität im Gehirn. Indem man Stille möglichst meidet und mit künstlichem Rauschen, Naturgeräuschen oder anderen Geräuschquellen ein angenehm-neutrales „Hintergrundrauschen“ schafft, nimmt man den Tinnitus weniger stark wahr.
Darüber hinaus werden in der TRT seit jeher alle Betroffenen angehalten, Stress abzubauen und sich zu entspannen.
Im Zusammenspiel dieser Maßnahmen lässt die Alarmreaktion, mit der man bislang reflexhaft auf die Tinnitus-Wahrnehmung reagiert hat, mitsamt der belastenden Folgeerscheinungen nach. Die Beeinträchtigung durch das Ohrgeräusch schwindet.
Ausgehend von dieser „Urform“ wird die TRT weltweit in vielen Varianten praktiziert. In Deutschland hat sich eine Weiterentwicklung durchgesetzt, bei der die TRT sinnvollerweise um konkrete Entspannungsmaßnahmen und hilfreiche kognitiv-verhaltenstherapeutische Techniken erweitert wird.
Diese Weiterentwicklung wird in Fachkreisen „TRT nach ADANO“ genannt. Seit einigen Jahren wiederum wird dieser Ansatz zunehmend als „Tinnitus-Bewältigungs-Therapie“ (TBT) bezeichnet.
Auch wenn bei der TBT häufig die kognitiv-verhaltenstherapeutische Ausrichtung betont wird, handelt es sich nicht um einen neuen Ansatz. Vielmehr werden lediglich bewährte Elemente – von der Aufklärung über die Aufmerksamkeitslenkung bis hin zu Entspannungstechniken – als Teil der kognitiven Verhaltenstherapie verstanden.
Was die Studie untersuchte
Die Tinnitus Retraining Therapy Trial (TRTT) – koordiniert von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore – hat nun drei Behandlungsvarianten getestet:
- Tinnitus-Retraining-Therapie, bei der neben einem ausführlichen Counseling herkömmliche Tinnitus-Noiser (einem Hörgerät ähnelnde „Rauscher“) eingesetzt wurden. Es handelte sich also um die rudimentäre Form der TRT, nicht um die seit mehr als zwei Jahrzehnten in Deutschland vorherrschende „TRT nach ADANO“ bzw. Tinnitus-Bewältigungs-Therapie.
- „partielle TRT“ mit identischem Counseling, aber manipulierten Noisern. Diese Noiser spielten das gleiche Rauschen in der gleichen optimalen (individuell angepassten) Anfangslautstärke ab. Nach 40 Minuten fielen sie aber in der Lautstärke ganz langsam (1dB/Min.) ab, bis sie schließlich verstummten. Die Geräte konnten von den Patienten aber jederzeit mit einem Handgriff zurückgesetzt werden.
- eine an idealtypischen „Best Practice“-Standards orientierte alternative Counseling-Klanganreicherungs-Variante, die große Schnittmengen mit der TRT aufwies. Statt Noisern erhielten die Patienten eine besonders umfangreiche Anleitung zur alltäglichen „Klanganreicherung“ (inkl. genauer Tipps für Geräte, Apps, Naturgeräusche-CDs u.v.m.). Zudem erlernten sie Übungen zum Stressabbau, zum Abbau von Schlafstörungen und zur Förderung der Konzentration.
Alle drei Patientengruppen erhielten also eine ausführliche Beratung zum Verständnis der Tinnitus-Problematik (und der „Abhilfe“). Und alle wurden angewiesen, möglichst durchgängig eine „Klanganreicherung“ zu betreiben. (Die Teilnehmer der zwei TRT-Gruppen konnten dafür Noiser einsetzen; wann immer sie dies nicht taten, sollten sie anderweitig Naturgeräusche, Musik, alltägliche Geräuschquellen usw. nutzen.)
Die Ergebnisse der Studie
Wenn man die Studie samt ihrer begleitenden Protokolle im Original auswertet und auch nachträglich veröffentlichte Analysen der Forschergruppe einbezieht, ergeben sich drei wesentliche Ergebnisse:
1. Alle drei Behandlungsvarianten minderten die Tinnitus-Beeinträchtigung erheblich.
Die belastenden Auswirkungen des Tinnitus auf das Alltagsleben nahmen in jeder der drei Gruppen bei den meisten Teilnehmern deutlich ab. Die Lebensqualität verbesserte sich stark.
Gemessen wurde dies anhand des „Tinnitus Questionaire“ – ein 52 Punkte umfassender, weltweit in Forschung und Therapie eingesetzter Fragebogen. Darin machten die Teilnehmer regelmäßig genaue Angaben über ihre psychische Belastung, die Aufdringlichkeit des Ohrgeräusches, etwaige Hörprobleme, Schlafstörungen und körperliche Beschwerden.
Aus der Verbesserung errechneten die Forscher enorme Therapieeffekte, wie sie selten zuvor erreicht worden sind.
Diese Behandlungserfolge sind umso bemerkenswerter, weil an der Studie ausschließlich Langzeitbetroffene mit einem stark verfestigten Tinnitus-Leiden teilnahmen: Sie hatten im Schnitt schon seit acht Jahren unter ihrem Ohrgeräusch gelitten, überwiegend schwer bis sehr schwer.
2. Die größte Behandlungswirkung erzielte die reguläre Tinnitus-Retraining-Therapie.
Der Therapieeffekt der TRT war nicht nur erstaunlich groß, sondern immerhin 14 Prozent größer als bei der „partiellen TRT“, 30 Prozent größer als bei der „Best Practice“-Variante.
Die Studienautoren sahen darin „keine bedeutenden Unterschiede“ (orig.: „no meaningful differences“). Allerdings dürften es die meisten Tinnitus-Betroffenen durchaus bedeutend finden, wenn eine Therapie ihre Beeinträchtigung um 30 Prozent mehr mindert als eine andere, ebenfalls sehr gute Behandlung.
Dieser Vorsprung der TRT ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass diese in der Studie, gelinde gesagt, suboptimal umgesetzt wurde: Kein einziger Behandler hatte die TRT zuvor angewendet! Zudem wurden In-Ear-Noiser genutzt, die in der TRT sonst aus gutem Grund vermieden werden. Und bedeutende Untergruppen von Tinnitus-Betroffenen wie Schwerhörige und Geräuschempfindliche, die in besonderen Maße von der TRT profitieren, wurden ausgeklammert. [Mehr dazu]
3. Die Tinnitus-Retraining-Therapie erzielte die volle Wirkung doppelt so schnell.
Die reguläre TRT erreichte die volle Behandlungswirkung bereits in weniger als 6 Monaten, bei der bei der „partiellen TRT“ dauerte es vier Monate länger, bei der „Best-Practice“-Behandung mehr als ein Jahr.
Das heißt: Die „kontrollierte Klangtherapie“ (in diesem Fall per Noiser, heute aber auch mit Bluetooth-Ohrhörern machbar) ersparte den Betroffenen mehrere Monate unnötiges Leiden. Das ist natürlich ein ganz gravierender Vorteil der TRT.
Kurioserweise war dieser durchaus spektakuläre Befund in der Studie zunächst nur in einer Tabelle ablesbar, wurde aber nicht ausdrücklich erwähnt. Der Leiter und Hauptautor der Studie, Craig Formby (Vorsitzender der TRTT Research Group) wies allerdings schon unmittelbar nach der Veröffentlichung lautstark darauf hin (Formby 2019 [PDF]):
„Die Verwendung von Noisern ist in der TRT für Tinnitus-Patienten mit hinreichendem Hörvermögen möglicherweise nicht notwendig, wenn diese Patienten routinemäßig eine Klanganreicherung betreiben. Allerdings deuten unsere Auswertungen darauf hin, dass die Behandlungswirkung durch die Noiser-Nutzung in der TRT gegenüber der partiellen TRT oder Standardbehandlung deutlich beschleunigt wurde.
Craig Formby in „Tinnitus Today“ (2/2019, S. 35)
Denn die TRT erreichte ihre volle Behandlungswirkung innerhalb von etwas weniger als sechs Monaten, während die anderen Behandlungen zehn bis zwölf Monate benötigten, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Zukünftige Forschungen sollten dieses Ergebnis genauer untersuchen.“
Dieser Befund war den Studienautoren so wichtig, dass sie ihn später noch mit einer sehr umfangreichen Analyse untermauerten (Formby et al. 2022). Darin zeigten die Forscher anhand ihrer Daten, dass
- die Tinnitus-Belastung durch die Noiser-Nutzung schon nach nur einem Monat deutlich abgenommen hatte und
- die Besserung im Zuge der TRT von Beginn an etwa doppelt so schnell wie in den beiden Kontrollgruppen ablief.
„Dies ist natürlich ein wichtiger praktischer klinischer Aspekt bei der Behandlung von stark belastendem subjektivem Tinnitus. Denn wenn man die Wahl zwischen mehreren Behandlungen hätte, die langfristig zu ähnlich positiven Ergebnissen führen, würden die meisten von uns wahrscheinlich diejenige Option empfehlen oder wählen, die dieses Endergebnis am schnellsten erreicht.“
Formby et al. 2022, S. 817
Die Forschergruppe resümiert:
„Das Neue und Wichtige an dieser Sekundäranalyse […] ist die Feststellung, dass die Noiser-Anwendung einen klinisch bedeutsamen Vorteil in der Dynamik des Ansprechens auf die Behandlung bietet. Dieser Vorteil führt zu einem rascheren Behandlungserfolg der gesamten TRT-Intervention.“
Formby et al. 2022, S. 822f.
Die Autoren schlussfolgerten weiter, anhand ihrer Ergebnisse könne TRT-Patienten nun erläutert werden, dass Noiser die Wirkung der Behandlung „um etliche Monate“ beschleunigen.
Zugleich regten die Forscher an, die kontrollierte Klangtherapie auch jenseits der TRT in anderen Counseling-orientierten Tinnitus-Therapien einzusetzen:
„Die Annahme liegt nahe, dass der Einsatz von Noisern auch andere Counseling-Interventionen bei Tinnitus beschleunigen würde.“
Formby et al. 2022, S. 822
Das Fazit der Forscher
Aus der (längerfristig) ähnlich guten Wirksamkeit der Tinnitus-Retraining-Therapie und der „Best Practice“-Behandlung leiteten die Studienautoren eine Empfehlung für beide Ansätze ab:
„Es gibt vielleicht nicht die eine beste Behandlung für alle. Es hängt von jedem Einzelnen ab, welche Behandlung am besten geeignet ist, abhängig auch von der Schwere des Tinnitus, der Persönlichkeit und der Umgangsweise mit dem Tinnitus. Gleiches gilt für die Behandler: Manche werden einen strukturierteren Ansatz wie die TRT bevorzugen, andere einen patientenzentrierteren Ansatz. Es gibt eine Berechtigung sowohl für die TRT als auch für unseren ‚Standard of Care‘-Ansatz.“
Craig Formby, JAMA Otolaryngology ‚Audio Autor Interview‘
Angesichts einer erheblichen Besserung bei immerhin bis zu 75 Prozent der Teilnehmer ermutigten die Forscher alle Betroffene eines quälenden Tinnitus, sich überhaupt eine derartige Therapie zu verschaffen.
Wie aus Missverständnissen Desinformation wird
All diese Ergebnisse sind bemerkenswert und von großer Bedeutung für die Praxis der Tinnitus-Behandlung auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Die deutsche „C3-Leitlinie Chronischer Tinnitus“ mit Behandlungsempfehlungen für Ärzte ist hinfällig und müsste zwingend (und dringend) angepasst werden, wichtige Therapieansätze modifiziert werden.
Geschehen ist aber bislang:
Nichts.
Stattdessen wurde im deutschsprachigen Raum – maßgeblich von drei Professoren – ein Zerrbild der TRTT-Studie verbreitet, das die zentralen Befunde geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Wie ist so etwas möglich?
Die Antwort beginnt dort, wo offenbar für fast alle „Interessierten“ hierzulande – Wissenschaftler, Ärzte und Journalisten eingeschlossen – die Beschäftigung mit der Studie aufhörte: beim „Abstract“, der üblichen Kurzzusammenfassung.
In diesen wenigen Sätzen hatten die Studienautoren einzig die gewagte Interpretation in den Vordergrund gestellt, es habe – nach 18 Monaten – „wenig Unterschiede“ bzw. „keinen Unterschied“ zwischen den Behandlungsvarianten gegeben.
Der enorm beschleunigte Wirkung der regulären TRT – de facto ein sehr bedeutsamer Unterschied – wurde ausgeblendet. Auf die außergewöhnliche Qualität der Kontrollbehandlung wurde nicht hingewiesen.
Folgenschwere Missverständnisse
Innerhalb dieser recht unglücklichen Aufbereitung der Studie luden vor allem zwei irreführende Begrifflichkeiten zu großen Missverständnissen ein:
1. Die manipulierten Noiser der „partiellen TRT“ wurden als „Placebo-Noiser“ bezeichnet.
Damit wurde suggeriert, es habe eine Kontrolle der TRT-Klangtherapie durch eine wirkungslose Scheinbehandlung stattgefunden.
In Wirklichkeit bestritten die Probanden mit den „Placebo-Noisern“ zwar keine optimale, aber – je nach Nutzungsverhalten – kaum weniger wirksame Klangtherapie. (Schließlich liefen die Noiser nach dem Einsetzen stets lange Zeit ganz normal und konnten jederzeit zurückgesetzt werden.) Zudem betrieben die Teilnehmer auch jenseits der Noiser eine systematische Klanganreicherung:
„Die Audiologen hielten die Teilnehmer an, […] die gesamte Zeit über eine Klanganreicherung zu betreiben, ob mit oder ohne Noiser-Nutzung.“
Scherer, Roberta. W. / Formby, Craig (2019a), S. 599
Von einer Placebo-Kontrolle im Sinne einer Scheinbehandlung kann daher überhaupt keine Rede sein.
Die Studienautorin Roberta W. Scherer führte den relativ geringen Unterschied zwischen den beiden TRT-Varianten im Interview mit der Fachzeitschrift JAMA Otolaryngology explizit darauf zurück, dass sich die Klangtherapie der Kontrollgruppe nicht auf die „Placebo-Noiser“ beschränkte:
„Wir hielten alle Studienteilnehmer an, zu jeder Zeit eine angereicherte Klangumgebung zu schaffen. Da es sich um normal hörende Menschen handelte, erhielten sie [die Teilnehmer mit „Placebo-Noisern“] vermutlich schon allein durch die Umgebung genug Klangtherapie.“
Roberta W. Scherer, JAMA Otolanryngology ‚Audio Author Interview‘
2. Die dritte Behandlungsvariante wurde „Standardbehandlung“ (orig.: „Standard of Care“) genannt.
Was diese Behandlung beinhaltete, blieb aber in Artikeln über die Studie meist im Dunkeln. Übrig blieb nur ein Wort: „Standardbehandlung“.
Dies verleitete zu der Annahme, es handele sich dabei wohl um eine Art „Minimalbehandlung“, wie sie die meisten Tinnitus-Betroffenen hierzulande „standardmäßig“ beim HNO-Arzt erfahren. Zugespitzt: kurze organische Abklärung, auf gut Glück Kortison, wirkungsloses Ginkgo, dann ein schulterzuckendes „Da kann man nichts machen“.
In Wirklichkeit handelte es sich jedoch um eine geradezu idealtypische, eigens für die Studie aufwändig konzipierte „Best Practice“-Therapie, die große Schnittmengen mit der TRT aufwies und in Teilen noch deutlich darüber hinaus ging.
So war das Counseling nicht „abgespeckt“ (wie aus Unkenntnis kolportiert wurde), sondern ebenso umfangreich wie bei der TRT. Neben einer sehr hilfreichen Aufklärung und sehr ausführlichen Anleitung für eine konsequente, möglichst durchgehende Klanganreicherung adressierte die Behandlung die häufigsten Tinnitus-bezogenen Beschwerden mit konkreten Maßnahmen zum Stressabbau (u.a. Entspannungsübungen), zum Abbau von Schlafstörungen und zur Förderung der Konzentration.
Für eine vergleichbare Hilfe müsste man im deutschsprachigen Raum eine ambulante „TRT nach ADANO“ bzw. „Tinnitus-Bewältigungs-Therapie“ oder Tinnitus-Reha in einer psychosomatisch orientierten Tinnitus-Klinik machen.
Dass eine dermaßen sinnvolle Behandlung ähnlich gut abschneidet wie die TRT in ihrer rudimentären Form, war nicht überraschend, sondern genau so zu erwarten. (Wir stellen die „Best Practice“-Therapie unten noch genau vor.)
Geteilte Desinformation
Von der Realität völlig losgelöst verbreitete sich unterdessen im deutschsprachigen Raum der aberwitzige Irrglaube, die „Studie aus Baltimore“ habe geradezu die Unwirksamkeit „der TRT“ erbracht. „Die TRT“ habe „nicht besser abgeschnitten als eine Placebobehandlung“, nicht besser als eine Standardbehandlung.
Erschütternd ist, dass ausgerechnet die Deutsche Tinnitus-Liga entsprechende Falschinformationen verbreitet – mit großer Beharrlichkeit seit nunmehr drei Jahren auf ihrer Webseite.
Geradezu skandalös ist allerdings, wer dieses Desaster in Gang gesetzt hat: die drei bislang eigentlich sehr angesehenen deutschen Professoren Gerhard Goebel (Prien), Gerhard Hesse (Bad Arolsen) und Birgit Mazurek (Charité).
Im Oktober 2019 veröffentlichten diese drei Tinnitus-Experten in der Fachzeitschrift „Hörakustik“ eine völlig irreführende Bewertung der Studie – gespickt mit Falschinformationen, zum Teil frei erfundenen angeblichen Aussagen der Studienautoren und unter Auslassung entscheidender Aspekte.
Dass Tinnitus-Noiser den Behandlungserfolg stark beschleunigt hatten, erwähnte dieser Beitrag mit keinem Wort – vier Monate nach der Klarstellung durch den Studienleiter. Stattdessen erklärten die drei Koryphäen Noiser für „ein Placebo“ und damit für obsolet. Und sie warben dafür, dass man sich von der ursprünglichen TRT nun unbedingt abgrenzen, ja die Bezeichnung „Tinnitus-Retraining-Therapie“ gar nicht mehr verwenden solle.
Dem Anschein nach hatten die drei Professoren den Originaltext der Studie mitsamt der umfangreichen begleitenden Protokolle überhaupt nicht gelesen. (Oder sie verfolgten eine wie auch immer geartete Agenda.)
Derweil wollte sich in der Tinnitus-Liga offenbar niemand die Mühe machen, sich mit der Studie zu befassen. Stattdessen druckte die DTL einfach den Beitrag der drei Professoren (die auch dem wissenschaftlichen Beirat der DTL angehören) Monate später unverändert in Ihrem Mitgliedermagazin „Tinnitus Forum“ (1/2020) ab.
Die Falschinformationen der Professoren wurden von der Tinnitus-Liga allerdings nicht bloß ungeprüft übernommen, sondern – nach einer Art „Stille-Post-Prinzip“ – für die eigene Website noch einmal verkürzt und verdreht. Das Ergebnis ist eine groteske Desinformation zulasten argloser Tinnitus-Betroffener.
Wie groß ist der Schaden?
Am schwersten wiegt allerdings der Schaden, den all diese geballte Desinformation in der deutschen Ärzteschaft angerichtet haben dürfte. Wenn Behandlungsempfehlungen oder gar die Konzeption ganzer Therapieansätze auf Fehlannahmen basieren, sind potenziell Millionen Tinnitus-Betroffene die Leidtragenden.
Klar ist:
Wo immer fehlgeleitete Schlussfolgerungen aus der „Baltimore-Studie“ zu Konsequenzen in der Beratung und Behandlung von Tinnitus-Patienten in Deutschland, Österreich und der Schweiz geführt haben, müssen diese korrigiert werden. Dies ist jeder betroffene Arzt oder Therapeut seinen Tinnitus-Patienten schuldig.
So geht es weiter
Soweit unser Überblick. Jetzt geht es, ganz kurzweilig, ans Eingemachte. Sie erhalten dabei Antworten auf diese Fragen:
- Mängel der Studie: Warum schnitt die TRT nicht noch besser ab?
- Scheinbehandlung: Warum kann keine Placebo-Kontrolle der TRT geben?
- Drei Professoren, eine Irreführung: Der große Faktencheck
- Echte Alternative: Warum war die „Best Practice“-Therapie („Standardbehandlung“) so erfolgreich?
Egal ob Sie ein interessierter Arzt / Therapeut oder Tinnitus-Betroffener sind: Nach der Lektüre werden Sie nicht nur gut informiert sein, sondern vor allem auch bessere Entscheidungen treffen können, für sich und andere.
Warum schnitt die TRT nicht noch besser ab?
Die Tinnitus-Retraining-Therapie wird in mehr als 30 Ländern eingesetzt. Vor, während und nach der Tinnitus Retraining Therapy Trial wurde sie – in vielen Varianten – schon in über hundert Studien geprüft. Die meisten Studien ergaben eine noch größere Wirksamkeit als in der TRTT, regelmäßig mit Erfolgsquoten einer weitreichenden Besserung für 80 bis 90 Prozent der Teilnehmer.
Bei der Einordnung der Phase-III-Studie ist daher unbedingt zu beachten, dass die TRT-Behandlung dort nur mangelhaft umgesetzt wurde und deshalb ihr Wirkungspotenzial mit Sicherheit nicht ausschöpfen konnte.
Unerfahrene Behandler
Ein verblüffender Aspekt, der im deutschsprachigen Raum bislang nicht beachtet worden ist, aber die Aussagekraft der Studie stark relativiert:
Kurioserweise bescheinigten die Studienautoren sämtlichen Audiologen, welche die Studie in den Kliniken durchführten, explizit einen „Mangel an Fachkenntnis“ (orig.: „lack of expertise“). Keiner der Audiologen hatte die TRT jemals zuvor angewendet!
„Keiner der Studien-Kliniker war anfangs für die TRT qualifiziert oder wendete sie routinemäßig an; die meisten Studien-Kliniker behandelten nur wenige Teilnehmer während der Studie. […] Dieser Mangel an Erfahrung könnte die geringeren Behandlungseffekte erklären, die wir im Vergleich zu anderen Studien gefunden haben.“
TRT Trial Research Group | Scherer / Craig (2019a), S. 603
Dieser gravierende Mangel der Studie wird nur ganz beiläufig in den Schlussbemerkungen zu möglichen „Einschränkungen“ erwähnt und von den Studienautoren allen Ernstes als „unvermeidlich“ bezeichnet.
Tatsächlich erhielten die beteiligten Audiologen vorab eine Schulung zur TRT und arbeiteten ihre „TRT-Behandlung“ dann nach einem einheitlichen Protokoll ab. Fraglich ist, wie motiviert sie dabei waren – in dem Wissen, dass sie nur wenige Patienten auf diese Weise behandeln würden.
Mit Sicherheit blieb eine solche „TRT-Behandlung“ erheblich hinter dem zurück, was erfahrene, motivierte und glaubwürdige TRT-Therapeuten leisten können.
Die Tinnitus-Retraining-Therapie ist eine anspruchsvolle Behandlung, die viel Hintergrundwissen, Erfahrung und insbesondere eine hohe Vermittlungskompetenz in der Aufklärung und Beratung erfordert.
Würde man für eine große Studie zu einer weltweit mit Erfolg praktizierten Operation oder psychotherapeutischen Methode ausschließlich auf Behandler setzen, die diese Behandlung noch nie zuvor geleistet haben?
Ungeeignete Noiser
Ein weiterer Mangel der Studie ist, dass ausgerechnet solche Tinnitus-Noiser eingesetzt wurden, von denen nach gängiger internationaler TRT-Praxis gerade abgeraten wird: Sämtliche Teilnehmer erhielten „In-Ear“-Modelle.
„Ursprünglich wurden den Teilnehmern Hinter-dem-Ohr-Noiser zur Verfügung gestellt. Doch Funktionsstörungen der Sensortechnologie zum Erfassen der Noiser-Nutzung am Ohr machten zu Beginn der Studie einen Wechsel zu Im-Ohr-Geräten erforderlich.“
TRT Trial Research Group | Scherer / Craig (2019), S. 599
Hinter-dem-Ohr-Noiser (HdO) ähneln äußerlich klassischen Hörgeräten. Sie leiten das abgespielte Geräusch, meist ein künstliches Rauschen, durch ein winziges Röhrchen in den Gehörgang. Das hat den großen Vorteil, dass der Gehörgang weitgehend offen bleibt und Umgebungsgeräusche kaum gedämpft werden. So hört der Nutzer nicht bloß das Rauschen, sondern nimmt auch seine Umgebung normal wahr, kann Gespräche führen, Auto fahren u.v.m., ohne dafür die Noiser abnehmen zu müssen.
In-Ear-Noiser (iO) werden dagegen in den Gehörgang gesteckt, was Umgebungsgeräusche stark dämpft. Die meisten Tinnitus-Betroffenen finden es aber unangenehm, ihr Ohr „zuzustöpseln“, denn abgeschottet von den natürlichen Geräuschen der Umgebung wirkt der Tinnitus eher noch aufdringlicher. Zudem können In-Ear-Noiser in vielen Alltagssituationen (Verkehr, Gespräche usw.) nicht genutzt werden.
HdO-Noiser (bzw. für Schwerhörige Kombinationsgeräte mit integriertem Hörgerät) machen die Klangtherapie deutlich beiläufiger und angenehmer, weshalb sie von Behandlern und Patienten bevorzugt werden.
Mit geeigneten Geräten hätten die Teilnehmer der TRTT-Studie diese Form der kontrollierten Klangtherapie höchstwahrscheinlich lieber und länger betrieben – und dann noch stärker davon profitiert.
Unzeitgemäße Technik
Hinzu kommt, dass in der TRTT-Studie noch altmodische „Rauscher“ eingesetzt wurden, die nur ein einziges (nicht sonderlich schönes) künstliches Rauschen generierten – und deren Zeit längst abgelaufen ist.
Moderne „Smart Noiser“, mit denen via Bluetooth (kabellos) vom Smartphone beliebige Klänge wie Wellenrauschen, Bachplätschern, Regen, Rauschen u.v.m. abgespielt werden können, machen die Klangtherapie noch einmal weitaus angenehmer – und mit größter Wahrscheinlichkeit auch effektiver.
Abgesehen davon lässt sich eine mustergültige kontrollierte Klangtherapie im Sinne des Tinnitus-Retrainings heute längst auch mit dezenten Bluetooth-Ohrhörern (Apple Airpods, Sony LinkBuds o.Ä.) vornehmen, ganz ohne spezielle Noiser.
Nicht-repräsentative Teilnehmer
Für die Studie wurden ausschließlich Patienten zugelassen, die über ein gutes Hörvermögen verfügten und keine ausgeprägte Geräuschüberempfindlichkeit an den Tag legten.
„In der TRTT haben wir gezielt Personen mit primärem Tinnitus aufgenommen, die weitestgehend frei von Problemen wie Hörverlust oder Geräuschintoleranz waren. Dies sind häufige Komorbiditäten, die einen Großteil der Betroffenen mit einem belastenden Tinnitus plagen. Unsere Stichprobe stellte daher eine belastete, aber relativ unkomplizierte Patientengruppe dar.“
Formby et al. 2022, S. 825
Tatsächlich ist in Wirklichkeit ein Großteil der Menschen mit Tinnitus von Hörschäden betroffen (in Folge von „Altersschwerhörigkeit“, Hörsturz, übermäßige Lautstärke-Exposition, Knalltrauma, hörschädigende Medikamente, Infektionen usw.)
Ein erheblicher Teil der Tinnitus-Betroffenen leidet zudem unter einer Geräuschüberempfindlichkeit (Hyperakusis bzw. Misophonie).
Beide Gruppen wurden in der TRT von Beginn an mit einbezogen und profitieren in besonderem Maße von der Therapie. So schließt die Klangtherapie der TRT bei Bedarf eine Hörgeräteversorgung ein. Eine Hyperakusis wiederum lässt sich mit einer speziell darauf zugeschnittenen Klangtherapie gezielt abbauen.
Keine „TRT nach ADANO“
Die TRTT-Studie setzte die Retraining-Therapie aber nicht nur mehr schlecht als recht um, sondern dies eben auch nur in ihrer rudimentären Form.
Ergänzende kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen, wie sie in Deutschland und vielen anderen Ländern seit Langem üblich (und für viele Betroffene von großem Nutzen) sind, wurden ausgespart.
Nicht besser als ein Placebo?
Der wohl größte Irrtum in Bezug auf die TRTT-Studie liegt in der Fehlannahme, dass eine sogenannte „Placebo-Kontrolle“ der TRT bzw. der TRT-Klangtherapie stattgefunden habe. Das war aber nicht der Fall.
Mehr noch: Nirgendwo auf der Welt hat es jemals eine Studie gegeben, in der irgendeine Variante der TRT durch ein Placebo – per Definition: eine Scheinbehandlung ohne therapeutischen Effekt – kontrolliert wurde!
Von einer Placebo-Kontrolle spricht man typischerweise bei Medikamenten-Studien, wenn eine Patientengruppe das echte Medikament, eine Kontrollgruppe ein identisch aussehendes Scheinmedikament ohne jeglichen Wirkstoff erhält. (Zu welcher Gruppe sie gehören, wissen die Teilnehmer natürlich nicht.)
Auf diese Weise kann ein möglicher Placebo-Effekt berücksichtigt werden: ein psychosomatisches Phänomen, bei dem sich der Zustand eines Patienten allein dadurch verbessert, dass er glaubt, eine wirksame Behandlung zu erhalten, bzw. eine Besserung seines Zustandes erwartet.
Nur wenn die echte Behandlung ein besseres Ergebnis erzielt als die Scheinbehandlung, geht von ihr ein wirklicher physiologischer Effekt aus.
Unmöglichkeit der Placebo-Kontrolle
Bloß: Bei einer komplexen Behandlung wie der Tinnitus-Retraining-Therapie, die auf eine überaus aktive Rolle des Patienten setzt, ist eine Placebo-Kontrolle – ähnlich wie bei den meisten psychotherapeutischen Verfahren – gar nicht möglich. Dafür gibt es wichtige praktische und ethische Gründe:
- Verblindung: Placebo-kontrollierte Studien erfordern zwingend eine „Verblindung“. Das heißt, die Teilnehmer dürfen nicht wissen, ob sie die echte Behandlung oder eine Scheinbehandlung erhalten. Bei Medikamenten-Studien ist das einfach. Bei der TRT hingegen ist es praktisch unmöglich, eine Placebo-Behandlung zu konzipieren, welche die echte Behandlung nachahmt, aber keine therapeutische Wirkung hat. Das gilt gleichermaßen für das Counseling wie für die Klangtherapie.
- Mündige Patienten: Teilnehmer einer TRT-Studie können sich heute jederzeit – aus Interesse oder bei Zweifeln – umfassend im Internet über die Inhalte und Abläufe der regulären Behandlung (und sogar „ihrer“ konkreten Studie) informieren. Eine echte Placebo-Kontrolle müsste extrem von der regulären Therapie abweichen, um keine therapeutischen Wirkung zu haben. Die meisten Probanden würden das schnell merken.
- Lange Dauer: Für eine reguläre TRT wird bei schwerer Beeinträchtigten in der Regel eine Dauer von einem Jahr oder länger veranschlagt. Auch TRT-Studien laufen daher meist über ein bis anderthalb Jahre. In einer Placebogruppe, die tatsächlich eine unwirksame Behandlung erhielte, wäre es kaum möglich, Engagement und Motivation der Teilnehmer über einen solch langen Zeitraum aufrechtzuerhalten.
- „Nocebo-Effekt“: Schon die bloße Vorstellung oder Ahnung von Studienteilnehmern, dass sie eine wirkungslose Scheinbehandlung erhalten, kann Angst, Frustration oder Hoffnungslosigkeit hervorrufen. Ein solcher „negativer Placebo-Effekt“ könnte die Ergebnisse aller Studienarme stark negativ verzerren.
- Große Bandbreite: Ein Tinnitus-Leiden, oft mitsamt vielfältiger Folgeerscheinungen, äußert sich bei den Betroffenen auf ganz unterschiedliche, immer einzigartige Weise – z.B. mit ganz verschiedenen Ängsten und drängenden Fragen. Die Anpassung an die individuellen Bedürfnisse ist ein zentraler Aspekt des Counselings, aber auch der Klangtherapie. Eine pauschale Placebo-Behandlung kann dies nicht nachahmen.
- Therapeutische Beziehung: Eine vertrauensvolle Beziehung von Behandler und Klient ist in der TRT von großer Bedeutung und trägt – ähnlich wie in der Psychotherapie – maßgeblich zum Erfolg bei. Wenn Teilnehmer die Authentizität der Behandlung anzweifeln oder sich getäuscht fühlen, würde dieser Effekt schnell ins Gegenteil umschlagen.
- Ethische Grenzen: In einem „Placebo-Counseling“ müsste man die Patienten nach Strich und Faden täuschen – und sie anschließend darüber für viele Monate oder gar Jahre, bis zum Abschluss der Studie, im Unklaren lassen. Keine Ethikkommission würde einer solchen Studie zustimmen. Denn damit könnte ohnehin bereits belasteten Menschen, oft mit Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, ein zusätzlicher Schaden zugefügt werden.
Um es ganz plastisch zu sagen:
Welche Botschaft sollte ein wirkliches „Placebo-Counseling“ aussenden? Dass man nicht viel machen kann und „damit“ leben muss? Dass Stress gegen Tinnitus hilft? Was sollten tatsächliche „Placebo-Noiser“ abspielen, die diesen Namen verdienen, also wirkungslos sind? Gar nichts? Death Metal? Helene Fischer? – Und gäbe es dann auch nur einen einzigen Studienteilnehmer, der so etwas „abkauft“?
„Placebo-Noiser“, die keine waren
Auch in der Tinnitus Retraining Therapy Trial wurde der sinnlose Versuch eines „Placebo-Counselings“ erst gar nicht unternommen.
Die vermeintlichen „Placebo-Noiser“ (orig.: „placebo sound generators“) wiederum boten alles andere als eine Scheinbehandlung. Vielmehr gaben diese Geräte das gleiche künstliche Rauschen von sich wie die regulären Noiser, zudem mit der gleichen optimalen (individuell angepassten) Anfangslautstärke.
Der Unterschied bestand lediglich darin, dass die „Placebo-Noiser“ stets nach 40 Minuten begannen, in der Lautstärke ganz allmählich abzufallen (um 1 dB pro Minute), bis sie nach etwa einer halben Stunde schließlich verstummten. Aber: Wurden sie nur für drei Sekunden aus dem Ohr genommen, sprang die Lautstärke sofort wieder für 40 Minuten auf den Anfangswert! Somit konnten die Probanden der „partiellen TRT“ ihre Noiser jederzeit mit einem Handgriff zurücksetzen, wenn sie ihnen zu leise wurden.
Der automatische „Reset“ machte die Studie im Prinzip „doppelblind“: Bei den Überprüfungen der Noiser durch die behandelnden Audiologen arbeiten stets alle Geräte normal. Den Probanden wiederum wurde gesagt, dass es ganz normal sei, wenn Sie den Eindruck hätten, dass die Noiser nach einer Weile leiser würden.
Allerdings waren die Teilnehmer sicherlich nicht so dumm, den ganzen Tag – 18 Monate lang – mit „stummen“ Noisern herumzulaufen!
Im Alltag werden Tinnitus-Noiser aber ohnehin kaum durchgehend getragen, sondern für einzelne „Sessions“ aufgesetzt: jeweils in den besonders ruhigen Phasen des Tages bzw. im Anschluss an Aktivitäten, in denen die Noiser unnötig sind oder stören: morgens nach dem Aufwachen, nach dem Duschen, nach der Fahrt zur Arbeit, nach dem Meeting, nach der Mittagspause, nach dem Sport, nach dem Spielen mit den Kindern, nach dem Restaurant-Besuch usw.
In jeder einzelnen solcher „Sessions“ liefen die „Placebo-Noiser“ der Studie stets lange Zeit ganz normal – und konnten bei Bedarf einfach zurückgesetzt werden.
Mit einer Scheinbehandlung hatte dies also nichts zu tun. Denn auch die vermeintlichen „Placebo-Noiser“ enthielten sozusagen noch sehr viel „Wirkstoff“, je nach Nutzungsart sogar nur unwesentlich weniger als reguläre Noiser.
Desinformation durch DTL
Wenn nun die Deutsche Tinnitus-Liga seit Jahren verbreitet, „die TRT“ habe in der Studie „nicht besser abgeschnitten als eine Placebobehandlung“, so könnte dies falscher gar nicht sein.
Zur Erinnerung:
- „Die TRT“ (in ihrer ursprünglichen Form) erreichte in der Studie eine außergewöhnlich große Behandlungswirkung, mit einer „Effektgröße“ von 1,32, wie sie selten zuvor für eine Tinnitus-Behandlung gemessen wurde. (Die allermeisten Behandlungen in unserem Gesundheitssystem werden aufgrund weitaus geringerer Therapieeffekte angewandt.)
- Der Therapieeffekt „der TRT“ war immerhin um 30% größer als bei der vorbildlichen, ebenfalls sehr wirkungsvollen „Best-Practice“-Kontrollbehandlung (Effektgröße 1,02).
- „Die TRT“ erreichte den vollen Behandlungseffekt in weniger als sechs Monaten und damit mehr als doppelt so schnell wie die „Best-Practice“-Behandlung. Die regulären Noiser beschleunigten die Wirkung enorm.
Zudem wurde in der „Baltimore-Studie“ mittels der „Placebo-Noiser“ ja nur die Behandlungswirkung der regulären Noiser und nicht der TRT als Ganzes kontrolliert.
Dass die TRT insgesamt wirksam ist, haben die Studienautoren nie angezweifelt. Vielmehr wollten sie in erster Linie herausfinden, wie die TRT im Vergleich zur „Best Practice“-Behandlung abschneidet. Das sagt ja auch der Titel der Studie!
Der Studienarm mit den manipulierten Noisern sollte lediglich Rückschlüsse darauf ermöglichen, wie groß die Wirkung der Noiser in der TRT ist bzw. welchen Zusatznutzen Noiser gegenüber einer Klangtherapie ohne Noiser bieten
Die Deutsche Tinnitus-Liga legt aber sogar noch eine Schippe drauf: Schon „viele Studien“ hätten gezeigt, „dass die TRT nur wenig bis keine Effekte im Vergleich zu Scheinbehandlungen aufweisen konnte“. Auch dies ist völlig falsch, weil entsprechende Studien – aus den oben genannten Gründen – gar nicht existieren.
TRT ≠ Noiser-Behandlung
In einer Verkettung von Denkfehlern hebt die DTL möglicherweise auf etwas anderes ab: Dass andere Formen der Klanganreicherung unter Umständen ebenso gut wirken wie Tinnitus-Noiser. Immer mal wieder haben nämlich kleinere Studien ergeben, dass die Verwendung spezieller Noiser-Geräte keinen größeren Vorteil gegenüber einer systematischen Klanganreicherung ohne Noiser bietet.
Das heißt: Wenn Betroffene in den ruhigeren Phasen des Tages, in denen der Tinnitus besonders stört, konsequent Naturgeräusche (Meeresrauschen, Bachplätschern, Regen etc.), künstliches Rauschen, angenehme Musik o.Ä. abspielen (z.B. über Kopfhörer oder Lautsprecher) oder anderweitig Stille meiden und für eine gewisse Geräuschkulisse sorgen, dann kann dies ähnlich effektiv sein wie die Noiser-Nutzung.
Eine solche gezielte Klanganreicherung ist aber natürlich keine „Scheinbehandlung“, sondern zählt weltweit völlig unbestritten zu den allerwichtigsten und wirksamsten Maßnamen bei einem störenden Tinnitus.
Vor allem wird der Ansatz der Tinnitus-Retraining-Therapie durch solche Studien gar nicht widerlegt, sondern im Gegenteil bestätigt. Denn die beiden „Väter“ der TRT, Pawel Jastreboff und Jonathan Hazel, haben immer schon betont, dass es überhaupt nicht auf die Nutzung bestimmter Geräte ankommt, sondern nur darauf, die Lautheit des Tinnitus durch eine gezielte Klanganreicherung zu mindern:
In ihrem Hauptwerk „Tinnitus-Retraining-Therapy – Implementing the Neurophysiological Model“ wiederholen Jastreboff und Hazell dies geradezu mantraartig, fast ein halbes Dutzend Mal. Zum Beispiel:
„Entscheidend ist die Nutzung der richtigen Geräusche, nicht die Verwendung eines bestimmten Gerätes.“
„Was zählt, ist der Klang an sich. Mit welcher Methode oder welchem Gerät er erzeugt wird, ist nicht wichtig.“
Jastreboff / Hazell (2004)
Mehr noch: Allen Patienten, die erst seit Kurzem und/oder nicht allzu stark unter einem Tinnitus leiden, wurde in der TRT – immer schon – von Noisern abgeraten (um damit nicht womöglich zusätzliche Aufmerksamkeit auf den Tinnitus zu lenken).
Spezielle Noiser (oder bei Schwerhörigkeit Kombi-Geräte aus Hörgerät und Noiser) waren in der TRT immer nur eine Option. Die Geräte wurden vor allem schwerer und länger Leidenden empfohlen – als einfaches Mittel, um eine konstante und unauffällige Klanganreicherung über große Teile des Tages zu erreichen, z.B. auch im Job.
Von viel komfortableren heutigen Möglichkeiten – schicke, kleine Bluetooth-Ohrhörer, mit dem Smartphone immer und überall mit einer Vielzahl idealer Retraining-Klänge anspielbar – war in den Anfangsjahren der TRT nichts zu ahnen.
Jastreboff und Hazell berichteten aber auch schon vor zwanzig Jahren – stolz – von TRT-Patienten, die mit eher ungewöhnlichen Formen der Klanganreicherung ein erfolgreiches Retraining absolvierten, z.B. mit einem in einer unverständlichen Sprache eingestellten Radiosender. Es ging den beiden immer nur um einen bestimmten Prozess der Habituation, wobei Noiser bloß ein Mittel zum Zweck waren.
In Deutschland verselbständigte sich dagegen ein sonderbares Zerrbild der TRT, in dem Noiser geradezu als obligatorisch dargestellt werden. Häufig ist gar der Eindruck erweckt worden, es gehe bei der TRT hauptsächlich um ein Noiser-Tragen, als sei dies ein Selbstzweck.
Zugleich kam die TRT hierzulande Menschen mit einem akuten Tinnitus und/oder eher mäßiger Beeinträchtigung leider nie zugute.
Die durchaus sinnvolle Erweiterung um kognitiv-verhaltenstherapeutische und entspannungstherapeutische Elemente zur „TRT nach ADANO“ bzw. Tinnitus-Bewältigungs-Therapie führte dazu, dass diese TRT in Deutschland fast nur in langen und teuren Gruppenkursen angeboten wird (meist 8 bis 12 wöchentliche Sitzungen von je 1,5 Stunden statt wie in den USA ein 1,5- bis 3-stündiges Einzel-Counseling).
Die „deutsche TRT-Variante“ richtet sich damit vor allem an schwer leidende Langzeitbetroffene mit erheblichen psychischen Beeinträchtigungen. Aus dem Blick geraten ist dabei leider, dass den meisten Tinnitus-Betroffenen auch eine niedrigschwellige, kompakte Kombination aus Counseling und Klanganreicherung enorm weiterhelfen würde. (Die TRTT-Studie beweist dies ja sogar für Langzeitbetroffene.)
Drei Professoren, eine Irreführung
Das Schockierendste an unserem „Fall“ ist, dass es ausgerechnet drei der einflussreichsten deutschen Tinnitus-Experten waren, die sowohl die hiesige Fachöffentlichkeit als auch die Tinnitus-Betroffenen selbst in Bezug auf die bedeutende Tinnitus Retraining Therapy Trial maximal getäuscht haben: Prof. Dr. Gerhard Goebel (Prien), Prof. Dr. Gerhard Hesse (Bad Arolsen) und Prof. Dr. Birgit Mazurek (Charité).
In der Fachzeitschrift Hörakustik (10/2019) sowie im DTL-Mitgliedermagazin Tinnitus Forum (1/2020) veröffentlichten die drei eine gleichlautende Bewertung der Studie, welche die tatsächlichen Ergebnisse völlig ad absurdum führte.
Hier unser Faktencheck:
1
Goebel, Hesse und Mazurek (GHM) schreiben gleich zu Beginn, man könne das Ergebnis der Studie „ohne Umschweife und ungeschminkt“ auch folgendermaßen ausdrücken:
„Johns Hopkins School belegt, dass Rauschgeneratoren (RG, Noiser) bei der Behandlung des chronischen Tinnitus im Rahmen einer Tinnitus-Retraining-Therapie ein Placebo sind.“
Gerhard Goebel, Gerhard Hesse, Birgit Mazurek
Völlig falsch. Diese Aussage ist eindeutig kein Ergebnis der Studie und von dieser auch nicht im Geringsten gedeckt, im Gegenteil: Noiser beschleunigten den Behandlungserfolg gegenüber der Kontrollgruppe um den Faktor 2, wie der Leiter und Hauptautor der Studie, Craig Formby, vier Monate (!) zuvor betont hatte.
Abgesehen davon gab es in der Studie faktisch keine Placebo-Kontrolle. Wie wir oben bereits aufgezeigt haben, ging von den vermeintlichen „Placebo-Noisern“ der Kontrollgruppe eine erhebliche klangtherapeutische Wirkung aus, die je nach Nutzungsart den regulären Tinnitus-Noisern kaum nachstand.
2
„Haupterkenntnis dieser Studie ist, dass die zusätzliche Versorgung der Probanden mit RG keinen Zusatzeffekt bringt […]: Weder die Kombination des Counseling mit RG im Vergleich zu einem Placebo-RG noch im Vergleich zu einer nicht mit RG versorgten Probandengruppe änderte an dem Ergebnis etwas Bedeutendes.“
Gerhard Boebel, Gerhard Hesse, Birgit Mazurek
Völlig falsch. Die reguläre TRT hatte gegenüber der „Best Practice“-Kontrollbehandlung eine um 30 Prozent größere Wirkung (Effektstärke 1,32 zu 1,01) und bewirkte dies – aufgrund der Noiser – zudem in weniger als der Hälfte der Zeit (6 Monate statt 12 Monate). Das ist natürlich ein ganz gewaltiger Zusatzeffekt.
3
Geradezu perfide an dem Beitrag von Goebel, Hesse und Mazurek ist aber, dass sie einen ganz entscheidenden Aspekt der Studie systematisch ausblenden: die von allen Teilnehmern in allen drei Behandlungsarmen betriebene umfassende Klangtherapie. So entwerfen sie ein Zerrbild der Kontrollbehandlung:
„Die dritte Gruppe erhielt ein abgespecktes Tinnitus-Counseling ohne RG (Standardversorgung).“
Gerhard Goebel, Gerhard Hesse, Birgit Mazurek
Falsch und irreführend. Das Counseling der „Standardversorgung“ war weder zeitlich noch inhaltlich abgespeckt, im Gegenteil.
Im ausführlichen Protokoll zur „Standard of Care“-Kontrollbehandlung heißt es in Bezug auf das Counseling explizit: „Die Dauer dieser Sitzung entsprach der Dauer des Beratungsteils der anderen TRTT-Behandlungsarme“ (Erdmann et al. 2019, S. 539).
Zudem war die Kontrollbehandlung nach idealtypischen „Best Practice“-Standards konzipiert worden und ging teils weit über das TRT-Counseling hinaus. So adressierte sie die häufigsten Folgeerscheinungen eines störenden Tinnitus, indem konkrete Maßnahmen zum Abbau von Stress, Schlafstörungen und Konzentrationsstörungen vermittelt wurden.
Die zentrale Täuschung ist aber eine andere: Die drei Professoren erwecken im gesamten Text durchgehend den Eindruck, die Kontrollbehandlung habe lediglich aus einem Counseling bestanden. Die Kontrollgruppe wird charakterisiert als „nicht mit RG versorgte Probandengruppe“, als „Kontrollgruppe mit tinnitusspezifischer ‚Betreuung'“. Diese habe lediglich ein „abgespecktes Counseling ohne RG“ erhalten. Das „Counseling als Standardbetreuung“ sei „mit einer Effektstärke von -1,01 wirksam“ usw.
Dass die Teilnehmer der „Best Practice“-Kontrollbehandlung in Wirklich zu einer umfassenden, möglichst durchgehenden Klanganreicherung angehalten waren, verschweigen die Professoren vollständig.
Dabei war die Klanganreicherung – im Counseling ausführlich vermittelt – die erste und wichtigste Maßnahme der Kontrollbehandlung (Erdmann et al. 2019). Auch innerhalb der speziellen Strategien zum Abbau von Stress, Schlafstörungen und Konzentrationsstörungen spielte die Klanganreicherung stets wieder eine wichtige Rolle (s.u.).
Dass die „Best Practice“-Behandlung in der Studie – jedenfalls im Endresultat nach 18 Monaten – nicht bedeutend weniger gut abschnitt als die Tinnitus-Retraining-Therapie (mit Noisern), führte den Vorsitzenden der TRTT Research Group und Leiter der Studie, Craig Formby, zu folgender Einschätzung:
„Die Verwendung von Noisern ist in der TRT für Tinnitus-Patienten mit hinreichendem Hörvermögen möglicherweise nicht notwendig, wenn diese Patienten routinemäßig eine Klanganreicherung betreiben.“
Craig Formby, „Tinnitus Today“, Vol. 44, No. 2, Summer 2019, S. 35
Das „Wenn“ ist dabei entscheidend! Noiser sind möglicherweise verzichtbar, wenn mit anderen Mitteln eine umfassende Klanganreicherung betrieben wird (und wenn die erhebliche Beschleunigung der Therapie durch Noiser keine Rolle spielt).
In der Desinformation unserer drei Professoren wird daraus sinngemäß schlicht: Noiser sind völlig nutzlos. Punkt.
4
Nach Fehlinformationen und Auslassungen begeben sich Goebel, Hesse und Mazurek dann endgültig ins Reich der Fantasie:
„Die Autoren ziehen allerdings den missverständlichen Schluss, dass TRT nicht wirksam ist, meinen aber, dass die mit dem Counseling kombinierte Hörtherapie mit RG unwirksam ist.“
Gerhard Goebel, Gerhard Hesse, Birgit Mazurek
Frei erfunden und völlig falsch. Dass die Studienautoren schlussfolgern, die TRT sei nicht wirksam, haben Goebel, Hesse und Mazurek tatsächlich frei erfunden. Man möchte so etwas bei derart bekannten Wissenschaftlern eigentlich nicht für möglich halten. Aber nirgendwo in der Studie findet sich eine solche Aussage, ganz im Gegenteil.
Ebenso wenig „meinen“ die Autoren, die „Hörtherapie mit RG“ sei unwirksam. Dass die Noiser-Nutzung unter Umständen nicht bedeutend wirksamer ist als eine anderweitige umfassende Klanganreicherung, heißt ja nicht im Geringsten, dass sie unwirksam ist.
Vielmehr empfehlen die Autoren Noiser, um die Behandlung zu beschleunigen (Formby 2019 / Formby et al. 2022).
5
Nun wird es kurios: Goebel, Hesse und Mazurek distanzieren sich von der S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus – an der sie selbst maßgeblich mitgewirkt haben (Hesse und Mazurek als Vertreter Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Goebel für die Deutsche Ärztliche Gesellschaft für Verhaltenstherapie):
„Ähnlich missverständlich drücken es auch die deutsche und europäische Tinnitus-Leitlinie (Zenner et al., 2015) aus: ‚TRT ist nicht wirksam.'“
Gerhard Goebel, Gerhard Hesse, Birgit Mazurek
Falsch. Nirgendwo in der S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus (2015) findet sich die Aussage, die TRT in Gänze sei „nicht wirksam“. Vielmehr empfiehlt die Leitlinie Counseling bzw. Beratung als Standardmaßnahme bei chronischem Tinnitus und bezweifelt lediglich einen Zusatznutzen der Noiser- bzw. Klangtherapie.
Als vermeintliche Belege für diese Zweifel führt die Leitlinie eine Handvoll methodisch schwacher Mini-„Studien“ an, die zwischen 1998 und 2003 in Deutschland erstellt wurden – unter anderem von Goebel und Hesse.
Diverse internationale Studien, die einen Nutzen der Klangtherapie – ob mit oder ohne Noiser – ergaben, werden einfach ignoriert.
6
Goebel, Hesse und Mazurek beschreiben sodann die von Ihnen beworbene, um diverse (für viele Betroffene absolut sinnvolle) kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen erweiterte „TRT nach ADANO“, die von festen „Teams“ aus HNO-Arzt, Psychotherapeut und Hörakustiker angeboten werden. Ihre Bemühungen, sich dabei unbedingt von der „angloamerikanischen TRT“ abzugrenzen, treiben seltsame Blüten:
„Im Hinblick auf indizierte Anpassungsversuche mit Hörgeräten und gegebenenfalls mit RGs für die Hyperakusis […] arbeiten die Teams eng mit Hörakustikern zusammen. Dies steht […] im Kontrast zur angloamerikanischen TRT (Jastreboff und Hazell, 2004), deren Ziel es ist, dem Betroffenen bei der Habituation behilflich zu sein.“
Gerhard Goebel, Gerhard Hesse, Birgit Mazurek
Falsch. Schwerhörige mit Hörgeräten und Hyperakusis-Betroffene mit Noisern zu versorgen, war von Anfang an fester Bestandteil der Tinnitus-Retraining-Therapie (und wurde von den Professoren, wie so vieles andere auch, einfach übernommen). Beides unterstützt in der Tat die Habituation des Tinnitus, allerdings nicht nur in den USA und Großbritannien, sondern selbstverständlich auch in Deutschland.
Offenbar wollen sich Goebel, Hesse und Mazurek aber vom Therapieziel der Habituation absetzen. Die deutsche „TRT nach ADANO“ sei vielmehr „durch kognitive Verhaltenstherapie den Betroffenen bei der Bewältigung und Akzeptanz der Tinnitus-Problematik behilflich“.
Dieser völlig sinnlose (und wissenschaftlich durch nichts gedeckte) Versuch einer Distanzierung macht deutlich, in welcher argumentatorischen Sackgasse sich die Professoren hier verrannt haben. Denn natürlich befördern sämtliche Maßnahmen zur besseren „Bewältigung und Akzeptanz“ des Tinnitus die Habituation.
Bei vielen psychischen Erkrankungen zielt die kognitive Verhaltenstherapie ganz selbstverständlich und ganz explizit auf eine Habituation z.B. angstbesetzter Reize. Gerade bei Angsterkrankungen (wie spezifische Phobien) und Belastungsstörungen (z.B. posttraumatische Belastungsstörung) ist eine systematische Habituation in der KVT seit Jahrzehnten eine Schlüsselmaßnahme zum Abbau belastender Reaktionen und damit zur Genesung.
Das Phänomen Tinnitus bzw. Tinnitus-Leiden passt genau in dieses Schema. Ausgerechnet hier das Ziel der Habituation zu bestreiten, kommt daher – in vielerlei Hinsicht – einer Bankrotterklärung gleich.
7
Schließlich haben Goebel, Hesse und Mazurek noch ein wichtiges – ökonomisch motiviertes – Anliegen:
„Wir dürfen in Anbetracht der aktuellen Studie aus Baltimore also nicht ‚das Kind mit dem Bade ausschütten‘! Es ist an der Zeit, dass wir unsere nationalen Therapien umbenennen, zum Beispiel in ‚Tinnitus-Bewältigungs-Therapie‘ (TBT) oder in ‚TRT nach ADANO‘ (ADANO 1998), und zumindest die unpassende Bezeichnung TRT vermeiden.“
Gerhard Goebel, Gerhard Hesse, Birgit Mazurek
Zur Begründung führen Sie an, die Krankenversicherung lehne nicht selten eine Kostenübernahme für die TRT ab mit der Begründung, dass die „apparatelastige TRT“ in den Leitlinien als unwirksam eingestuft wird.
Das ist schon erstaunlich: Würden die Professoren ihre Aufgabe als Wissenschaftler ernst nehmen, müssten sie schon seit Jahren auf eine Änderung und Klarstellung der Leitlinien drängen. Denn weder die europäische noch die deutsche Leitlinie (aktuell mit Stand 2021) spiegeln angesichts der Tinnitus Retraining Therapy Trial noch den Stand der Wissenschaft wieder, laufen diesem vielmehr zuwider. In Bezug auf die TRT insgesamt und den Noiser-Einsatz müssen die Behandlungsempfehlungen zwingend geändert werden.
Stattdessen stellen die Professoren (als aktuelle und ehemalige Klinikchefs) kurzfristige finanzielle Interessen über die wissenschaftliche Evidenz. Aus Sorge um Entscheidungen der Krankenkassen, die auf den irreführenden, jetzt der Evidenz klar wiedersprechenden Leitlinien beruhen, die von eben diesen Professoren verfasst wurden.
Fazit
„Ohne Umschweife und ungeschminkt“ könnte man es auch folgendermaßen ausdrücken: Die Professoren Goebel, Hesse und Mazurek haben die deutschsprachige Öffentlichkeit über eine der wichtigsten Studien in der Geschichte der Tinnitus-Forschung maximal in die Irre geführt.
Bleibt die Frage nach dem Motiv, die sich nicht beantworten, aber doch stellen lässt:
Ist es wirklich vorstellbar, dass drei der wichtigsten deutschen Tinnitus-Experten eine derart wichtige Studie mitsamt der begleitenden Protokolle gar nicht gelesen und ausgewertet haben? Dass sie allein auf Basis der sehr missverständlichen Zusammenfassung der Studie eine Bewertung für Fachzeitschriften verfassten?
Oder verfolgten sie ein Kalkül? Nutzten sie die unglückliche Kommunikation der Studienautoren, um an einem lange gehegten Urteil festzuhalten?
Eine Passage ihres Textes lässt möglicherweise tief blicken: Goebel und anderen psychotherapeutisch orientierten Tinnitus-Behandlern sei schon um die Jahrtausendwende „zweifelhaft“ gewesen, ob Noiser einen Zusatzeffekt erbringen. Überhaupt habe man bei der Verbindung von TRT und KVT schon damals ein „ungutes Gefühl“ (!) gehabt.
Natürlich spielt Eitelkeit in der wissenschaftlichen Debatte seit jeher eine beträchtliche Rolle.
Wissenschaftlich im engeren Sinne wäre es allerdings, lang gehegte Annahmen ggf. auch zu revidieren und bestehende Behandlungsansätze – auf Basis von Evidenz – fortlaufend weiterzuentwickeln. Letzteres jedenfalls ist seit jeher eine große Stärke gerade der kognitiven Verhaltenstherapie.
Warum war die „Standardbehandlung“ so erfolgreich?
Ein besonders spannender, im deutschsprachigen Raum bislang völlig unbeachteter Aspekt der TRTT-Studie ist die Ausgestaltung der sogenannten „Standardbehandlung“ (orig.: „Standard of Care“ / SOC).
Die TRTT Research Group hat diesen Ansatz eigens für die Studie aufwändig konzipiert und deshalb auch in einem eigenen Protokoll (Erdmann et al. 2019) ausführlich beschrieben – ausdrücklich, um eine gut umsetzbare Vorlage für die klinische Praxis anzubieten.
Auf dieser Grundlage erläutern wie Ihnen hier – quasi exklusiv – die Kernpunkte und das therapeutische Vorgehen dieses Ansatzes, der ja eine beachtliche Behandlungswirkung unter Beweis stellte.
Der „Best Practice“-Ansatz
Ausgangspunkt war die bestehende Tinnitus-Behandlungspraxis der beteiligten US-Militärkliniken auf. Der Stellenwert der Tinnitus-Behandlung war dort bereits ungewöhnlich groß, da Ohrgeräusche unter Militärangehörigen besonders häufig auftreten und die Kliniken gut auf Tinnitus-bezogene Beschwerden eingestellt sind.
Die Forscher erweiterten die bestehenden Maßnahmen aber noch einmal erheblich, indem sie sich an den idealtypischen „Preferred Practices“-Leitlinien der „American Speech-Language-Hearing Association“ (ASHA) orientierten.
Diese Behandlungsempfehlungen für Audiologen sehen allein im Abschnitt „Tinnitus Management“ unter anderem vor:
- Ausrichtung an den individuellen Beschwerden des Patienten, seiner Behandlungsgeschichte, seiner Selbsteinschätzung sowie der audiologischen Untersuchung, möglichst unter Einbeziehung der Familie.
- Aufklärung / Beratung zu Ursachen und Entstehung des Tinnitus sowie dessen audiologischer Bedeutung
- Beratung über Maßnahmen zur Tinnitus-Bewältigung und zum Stressabbau
- Nutzung von Tinnitus-Noisern, Hörgeräten oder vergleichbaren Geräten, um die Tinnitus-Wahrnehmung zu mindern
- Nutzung von Umgebungsgeräuschen, um die Tinnitus-Wahrnehmung zu mindern
- Beratung, um Tinnitus-bezogene Schlafstörungen zu minimieren
- Abklärung einer möglichen Hyperakusis (Geräuschüberempfindlichkeit) und deren Behandlung
- Überprüfung des Behandlungserfolges anhand festgelegter Behandlungsziele
Die ASHA-Leitlinien zum Counseling machten unter anderem diese Vorgaben:
- Counseling ist indiziert für alle Patienten und ihre Familienangehörigen als integraler Bestandteil der audiologischen Betreuung.
- Counseling befördert das Verständnis und die Akzeptanz von Hörproblemen sowie die Anpassung daran. Counseling verbessert das körperliche und psychosoziale Wohlbefinden und die Lebensqualität von Menschen mit auditiven Störungen. Es befördert die Einhaltung von Behandlungsempfehlungen und steigert den Behandlungserfolg und die Zufriedenheit mit der Behandlung.
- Die Beratung wird für jeden Patienten individuell gestaltet, die Ziele anhand der Bedürfnisse jedes Patienten festgelegt und ggf. nachjustiert.
- Das Counseling kann kognitiv, affektiv oder verhaltensorientiert ausgerichtet sein.
- Zu den Behandlungsoptionen zählen die Entwicklung von Problemlösungs- und Selbsthilfe-Kompetenzen.
Aus diesen Grundsätzen entwickelten die Forscher ein ausführliches Protokoll mit genauen Vorgaben für den Ablauf der Behandlung, bis hin zu ausformulierten Beratungstexten, fertigen Handouts, konkreten Übungen usw.
Drei übergeordnete Ziele hatte die Behandlung in Einklang mit den Leitlinien:
- Minimierung der Tinnitus-Wahrnehmung
- Abbau negativer körperlicher, affektiver und kognitiver Reaktionen auf den Tinnitus
- Verbesserung des Wohlbefindens und der Lebensqualität.
Diese Maßnahmen nutze man dazu:
- Counseling (Aufklärung und Beratung)
- Klangtherapie / Geräuschtherapie
- Stressabbau / Entspannung
- Abbau von Schlafstörungen
- Abbau von Konzentrationsstörungen
Festzuhalten ist:
Die sogenannte „Standardbehandlung“ der Studie orientierte sich höchsten „Standards“ einer Fachgesellschaft. Sie war und ist aber nirgendwo „der Standard“, weder in den beteiligten Kliniken noch sonst irgendwo im US-amerikanischen Gesundheitssystem.
Das Protokoll griff allerdings – anders als im Fall der Tinnitus-Retraining-Therapie – Elemente der bestehenden Praxis auf, sodass die Audiologen mit der „Best Practice“-Behandlung kein völliges Neuland betraten.
Counseling (Aufklärung und Beratung)
Zentrale Maßnahme war – neben einer umfassenden Klangtherapie – das Counseling. Die Forscher legten dabei großen Wert auf eine sehr persönliche, respektvolle, kollaborative Herangehensweise mit diesen Elementen:
- Erfragen der persönlichen Tinnitus-Geschichte (bzw. des subjektiven Narrativs)
- Empathisches Erwidern (angelehnt an die klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers), um das Erleben des Patienten zu validieren und Vertrauen zu schaffen
- Aufbauen einer therapeutischen Beziehung als entscheidender Grundlage für den Behandlungserfolg
- gemeinsame Entscheidungsfindung zu Behandlungszielen und -strategien
- Förderung der Selbstwirksamkeit des Patienten, um den Umgang mit dem Tinnitus zu optimieren
Der Patient wurde dabei explizit als wichtiger „Experte“ betrachtet: für seine Probleme, Erfahrungen, Bedürfnisse, Werte, Prioritäten, Sorgen, seinen Lebenswandel und seine Fähigkeiten. Der Behandler hingegen war Experte für die am besten geeigneten Maßnahmen und deren motivierende, verständliche Vermittlung.
„Der Gesamtkontext und die besonderen Details, die in den Narrativen der Patienten enthalten sind, bieten oft unschätzbare Einblicke in affektive, kognitive und verhaltensbezogene Faktoren, die sich letztlich auf die Behandlungsergebnisse auswirken, da sie sehr häufig die Therapietreue beeinflussen.“
Erdman et al. 2019, S. 543
Vermittelt wurde dabei auch die Einsicht und Überzeugung, selbst eine erhebliche Linderung der Tinnitus-Beeinträchtigung erreichen zu können. Ziel war explizit ein „I can do this“-Mindset: „Ich glaube, ich kann das.“
Zwar gibt es durchaus viele Schnittmengen zwischen dem Counseling der Tinnitus-Retraining-Therapie und dem der „Best Practice“-Behandlung. Die Studienautoren hoben aber hervor, letztere sei „im Gegensatz zum didaktischen, direktiven Beratungsansatz der TRT […] eine interaktive, unterstützende Intervention, die sich auf die spezifischen Tinnitus-Beschwerden jedes Einzelnen konzentriert“.
Die Unterschiede zwischen der (in der Studie praktizierten Variante der) Tinnitus-Retraining-Therapie und der „Standardbehandlung“ werden von den Studienautoren – stark zweiwertig zugespitzt – so verdeutlicht:
TRT | SOC |
---|---|
theoriegeleitet | patientenzentriert |
Jastreboffs neurophysiologisches Modell | aktuelle Best Practice-/ASHA-Leitlinien |
direktiv | unterstützend |
didaktisch / top-down | interaktiv / horizontal |
komplexe Konzepte | angepasste Inhalte |
Klangtherapie mit Geräten | Klanganreicherung der Umgebung |
„Abgespeckt“ – wie es in Deutschland von unkundiger Seite verbreitet wurde – war das Counseling der „Best Practice“-Behandlung jedenfalls mitnichten. Vielmehr war es ebenso umfangreich wie bei der TRT:
„Abhängig von den Fragen und Bedürfnissen des einzelnen Teilnehmers nahm das Protokoll in der Regel 1,5 bis 2,5 Stunden in Anspruch. Die Dauer dieser Sitzung entsprach dem Counseling-Teil der anderen TRTT-Behandlungsarme.“
Erdman et al. 2019, S. 539
Zu Beginn ließ sich der Audiologe schildern, auf welche Weise und wie stark der Tinnitus das Leben des Patienten beeinträchtigte:
- „Unser Ziel ist es, Ihnen zu ermöglichen, mit dem Tinnitus so umzugehen, dass er keine negativen Auswirkungen auf Ihr Wohlbefinden und Ihr Leben hat. Dazu ist es wichtig, dass ich verstehe, wie sich Ihr Tinnitus auf Ihren Alltag auswirkt und wie Sie sich dabei fühlen. Erzählen Sie mir also bitte von Ihrem Tinnitus.“
Das Narrativ der persönlichen Tinnitus-Geschichte ermöglichte dem Behandler, empathisch mit den Erfahrungen des Betroffenen umzugehen, und leitete die Identifikation von Problemfeldern für die Behandlung ein.
Danach wurden die Tinnitus-bezogenen Sorgen des Patienten erörtert. Um unbegründete Ängste und Fehlannahmen auszuräumen, klärten die Behandler anhand von Handouts über das Phänomen Tinnitus auf.
Kernaussagen waren unter anderem:
- Als Tinnitus bezeichnet man die Wahrnehmung von Geräuschen, die nicht von außerhalb des Körpers stammen.
- Tinnitus kann durch Lärm, bestimmte Medikamente, Krankheiten, Kopfverletzungen und Stress verursacht werden.
- Tinnitus kann, muss aber nicht mit einem Hörverlust verbunden sein.
- Fast jeder Mensch bemerkt von Zeit zu Zeit einen (vorübergehenden) Tinnitus.
- Tinnitus schädigt nicht Ihr Gehör und gefährdet nicht Ihre Gesundheit.
- Er kann sich verschlimmern, gleich bleiben oder verschwinden.
- Menschen mit einem Hörverlust nehmen Tinnitus möglicherweise stärker wahr, weil sie die Umgebungsgeräusche weniger gut hören.
- Wenn man auf den Tinnitus fokussiert, kann er sich noch stärker bemerkbar machen.
- Die meisten Menschen, die Tinnitus haben, fühlen sich davon nicht gestört.
- Viele Menschen lernen, ihren Tinnitus zu ignorieren.
- Sie können lernen, den Tinnitus zu ignorieren.
- Wenn andere Geräusche in der Umgebung vorhanden sind, fällt es leichter, den Tinnitus zu ignorieren.
Der Behandler schnitt seine Ausführungen dabei auf das Interesse, Auffassungsvermögen und vorhandene Wissen des Patienten zu, ging auf Fragen und Zweifel ein.
Auf diese Weise besprach er auch die Untersuchungsergebnisse zum Hörvermögen und zu einer etwaigen Geräuschempfindlichkeit, erklärte die Mechanismen des Hörens, die vielfältigen Möglichkeiten zur Klanganreicherung usw.
Im Rahmen der gemeinsamen Entscheidungsfindung konnte der Patient selbst darüber befinden, welche seiner Tinnitus-bezogenen Probleme er mit Priorität angehen und welche Strategien er dazu nutzen wollte.
„Die Teilnehmer wählten Strategien aus, von denen sie annahmen, dass sie sie leicht und gerne in ihren Alltag integrieren könnten. Dies optimierte die Wahrscheinlichkeit, dass diese Strategien erfolgreich umgesetzt würden, was natürlich die Selbstwirksamkeit stärkte. Besonderes Augenmerk wurde auch darauf gelegt, inwieweit und auf welche Weise die Teilnehmer den Tinnitus bereits erfolgreich bewältigten. Solche Strategien sollten fortgesetzt und noch häufiger genutzt werden.“
Erdman et al. 2019, S. 541
Die Klangtherapie war obligatorisch, wobei die Patienten aus diversen Möglichkeiten und Geräten wählen konnten. Weitere Behandlungsangebote zielten auf die häufigsten Tinnitus-Folgeerscheinungen: Stress, Schlafstörungen und Konzentrationsstörungen.
Klangtherapie
Allen Teilnehmern der SoC-Gruppe wurde die Verwendung von Hintergrundgeräuschen empfohlen, um den Tinnitus in den Hintergrund zu rücken.
Der Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung des Tinnitus und seiner Lästigkeit wurde wie folgt deutlich gemacht:
- Hintergrundgeräusche zu nutzen ist das Wichtigste, was Sie tun können, um dafür zu sorgen, dass der Tinnitus nicht mehr so deutlich wahrnehmbar oder störend ist.
- Es gibt viele Geräte, die Sie nutzen können, um dies zu erreichen.
- Es ist wichtig, dass Sie für die Situationen, in denen der Tinnitus Ihnen Probleme bereitet, passende Arten von Umgebungsgeräuschen finden. Der Tinnitus wird dann weniger auffällig und weniger lästig sein.
- Und wenn er weniger lästig ist, werden Sie ihn auch seltener bemerken.
- Wählen Sie Geräusche, die Sie als angenehm oder entspannend und beruhigend empfinden.
Die Patienten erhielten Informationen über diverse Möglichkeiten zur Klanganreicherung – von alltäglichen Geräten wie Radios oder tragbaren Ventilatoren über Rauschgeneratoren und Zimmerspringbrunnen bis hin zu Apps und CDs. (Enthalten waren sogar Kauf/Bestell-Informationen für spezielle Geräte.)
Dabei wurden die Teilnehmer immer wieder gefragt, welche Alternativen der Klangtherapie sie bevorzugen würden, wie leicht es Ihnen fallen würde, bestimmte Methoden in Ihren Alltag zu integrieren usw.:
„Könnte zum Beispiel ein bestimmtes Gerät zur Klanganreicherung bei der Arbeit verwendet werden? Würde die Klanganreicherung den Schlaf des Ehepartners stören? Das gemeinsame Planen, Prüfen von Alternativen und Ausarbeiten von Strategien ermöglichte es den Teilnehmern, zu einer ‚Ich schaffe das‘-Einstellung zu gelangen.“
Stressabbau / Entspannung
Für Patienten, die zu erkennen gaben, wegen des Tinnitus belastet und gestresst zu sein, enthielt das SOC-Protokoll besondere Schwerpunkte. Vermittelt wurden dabei diese Kernbotschaften:
- Durch andere Geräusche in der Umgebung wird der Tinnitus weniger wahrnehmbar. Das macht es einfacher, den Tinnitus zu ignorieren, wodurch er auch weniger belastend ist.
- Es ist wichtig, dass Sie Wege zum Stressabbau finden, nicht nur, weil der Tinnitus selbst sehr belastend sein kann, sondern auch, weil Stress Tinnitus in einigen Fällen zu verschlimmern scheint.
- Tinnitus-Behandler empfehlen eine Vielzahl von Möglichkeiten zum Stressabbau: Tiefes Atmen, progressive Muskelentspannung und entspannende Vorstellungsbilder sind sehr effektive Techniken. Andere Optionen sind Yoga, Tai Chi und Meditation, die mehr Zeit in Anspruch nehmen, aber ebenfalls sehr wirksam sind.
Diese Optionen wurden durchgesprochen. Allen Patienten, die mit diesen Techniken nicht vertraut waren, zeigten die Behandler Übungen zur Tiefenatmung, progressiven Muskelentspannung und geführten Imagination.
Die Teilnehmer wurden gebeten, Methoden auszuwählen, die Sie für ihren Lebensstil am geeignetsten fanden. Und sie wurden angehalten, diese Methoden und andere Wege zur Stressminderung regelmäßig anzuwenden.
Den Patienten wurde dabei auch verständlich gemacht, dass die Nutzung dieser Entspannungsmethoden und die Anwendung entspannender Hintergrundgeräusche beim Abbau von Tinnitus-Belastung und -Wahrnehmung synergetisch zusammenwirken, sich also in ihrer Wirkung wechselseitig verstärken.
Abbau von Schlafstörungen
Die Patienten wurden darüber aufgeklärt, dass Menschen mit Tinnitus sehr häufig Schlafprobleme haben, dass es aber viele Möglichkeiten, um diese zu lindern. Auch andere Faktoren, die den Schlaf beeinträchtigen, wurden behandelt. Zu den Schwerpunkten gehörte:
- Die Verbesserung des Schlafverhaltens ist wichtig, da Schlafmangel zu Stress, Müdigkeit und Reizbarkeit führt und sich negativ auf die allgemeine Gesundheit auswirkt.
- Umgebungsbedingungen wie Lärm, Licht und Temperatur sowie ein unregelmäßiger Schlafrhythmus, Jetlag, Medikamente, Koffein, Nikotin und Alkohol können den Schlaf ebenso stören wie Stress und belastende Gefühle.
- Ein routinemäßiger Schlafrhythmus mit festen Zeiten für das Zubettgehen und morgendliche Aufstehen wird empfohlen, um eine achtstündige Schlafdauer zu begünstigen.
- Bewegung tagsüber ist förderlich, unmittelbar vor dem Schlafengehen aber hinderlich. Mittagsschlaf sollte ebenso vermieden werden wie stressige Aktivitäten, Koffein, Alkohol, große Mahlzeiten und scharfe Speisen kurz vor dem Schlafengehen.
- Die Schlafhygiene sollte optimiert werden, indem man auf Ablenkungen (TV, Computer, Essen/Getränke) verzichtet, bequeme Betten verwendet, das Schlafzimmer abdunkelt und für eine angenehm kühle Temperatur sorgt.
- Beruhigende Hintergrundgeräusche (z.B. Musik, Naturgeräusche oder breitbandiges Rauschen) sind dem Schlafen oft zuträglich. Kopfkissen-Lautsprecher verhindern, dass der Partner gestört wird.
- Entspannungsübungen wie progressive Muskelentspannung oder visuelle Imagination sollten bei Bedarf als Einschlafhilfe genutzt werden.
Zusätzlich händigten die Audiologen den Teilnehmern eine Broschüre (der Mayo-Klinik) mit Schlaftipps aus.
Abbau von Konzentrationsstörungen
Wenn Patienten aufgrund des Tinnitus unter Konzentrationsstörungen litten, wurde zur Bewältigung – einmal mehr – routinemäßig angeregt, dezente Hintergrundgeräusche zu nutzen, um die Tinnitus-Wahrnehmung zu reduzieren.
Zum besseren Verständnis wurde hervorgehoben:
- Konzentrationsschwierigkeiten beeinträchtigen das Gedächtnis, die Leistungsfähigkeit und die Produktivität.
- Konzentrationsprobleme verursachen Stress und Reizbarkeit.
- Abgesehen vom Tinnitus können auch andere Faktoren die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen, etwa Lärm, Temperatur, Ablenkungen, Beleuchtung, Hunger, Müdigkeit, Langeweile, gestörte Gesundheit, Stress und Depression.
Folgende Strategien wurden ebenfalls erläutert:
- Arbeiten Sie in kürzeren Abschnitten und / oder machen Sie Pausen.
- Optimieren Sie die äußeren Bedingungen, um sich so wohl wie möglich zu fühlen.
- Führen Sie eine feste „Sorgenzeit“ (orig. „worry time“) ein. [Eine feste Zeit, in der man sich täglich voll und ganz dem „Sorgen-Machen“ widmet, sodass die Sorgen im Rest des Tages weniger Raum einnehmen.]
- Verwenden Sie ein inneres „Gedanken-Stopp“-Kommando, um abschweifende Gedanken zu minimieren und die Aufmerksamkeit neu zu fokussieren.
- Üben Sie, Ihre Aufmerksamkeit zu verschieben. Das zeigt Ihnen, dass ein Fokussieren auf den Tinnitus dieses Geräusch präsenter macht, während das Fokussieren auf andere Geräusche den Tinnitus in den Hintergrund rückt.
Zum Erlernen der Aufmerksamkeitslenkung wurde den Teilnehmern während des Counselings eine Übung vermittelt.
Behandlungsziele
Zum Ende des Counselings wurden die von jedem Teilnehmer identifizierten Problembereiche sowie die ausgewählten Behandlungsziele und -strategien noch einmal durchgegangen.
Schließlich fasste der Audiologe die Ergebnisse der Sitzung in Form von Behandlungsempfehlungen zusammen. Jedem Teilnehmer wurde ein schriftlicher Überblick über seine persönlichen Behandlungsempfehlungen ausgehändigt.
Bei einem Folgetermin – einen Monat später – wurden Fortschritte und etwaige Probleme besprochen und die Behandlung bei Bedarf angepasst.
Fazit
Die „Best Practice“-Behandlung war äußerst sinnvoll konzipiert und darauf ausgelegt, den Menschen mit einem chronischen Tinnitus-Leiden durch ein mehrstündiges Counseling maximal zu helfen. Die Klangtherapie spielte dabei eine herausragende Rolle, auch wenn auf spezielle Noiser verzichtet wurde.
Bei alledem kann es niemanden verwundern, dass die „Best-Practice“-Kontrollbehandlung in der TRTT-Studie einen sehr großen Behandlungseffekt verbuchte, der „nur“ um 30 Prozent unter der Tinnitus-Retraining-Therapie lag.
Dass die schlecht umgesetzte TRT in ihrer rudimentären Urform trotzdem die Nase vorn hatte, zeigt zugleich eindrücklich, welch enormes Potenzial dieser Ansatz hat und wie ungebrochen hilfreich er weiterhin ist.
Am Ende des Tages bleibt der Königswegs aus unserer Sicht eindeutlg ein „Best of both/all worlds“: Jenseits fachidiotischer Scheuklappen und unsachlicher „Grabenkämpfe“ sollte wissenschaftlich und klinisch alle Kraft darauf verwendet werden, Tinnitus-Leidenden eine bestmögliche Therapie anzubieten.
Was im deutschsprachigen Raum als „TRT nach ADANO“ bzw. „Tinnitus-Bewältigungs-Therapie“ entwickelt wurde, zielt längst in die richtige Richtung – auch wenn
- die entsprechenden Angebote leider praktisch ausschließlich auf schwer leidende Langzeitbetroffene ausgerichtet sind (von denen wiederum nur ein verschwindend geringer Teil diese Angebote wahrnimmt)
- die didaktische Vermittlung meist mangelhaft (weil allzu hölzern und umständlich) ist
- Möglichkeiten für eine zeitgemäße, komfortable Klangtherapie (jenseits der traditionellen Noiser-Nutzung) bislang kaum wahrgenommen werden
- dabei noch zu sehr auf eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Herangehensweise der „alten Schule“ gesetzt wird, während neuere Entwicklungen wie die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) kaum integriert sind.
Dringend geboten wäre es in Deutschland, Österreich und der Schweiz in jedem Fall, ein niedrigschwelliges habituationsorientiertes Behandlungsangebot zu schaffen, das allen Tinnitus-Betroffenen tatsächlich zugute kommt.
Darauf jedenfalls zielt unser Ansatz.
Quellen
- Scherer, Roberta. W. / Formby, Craig, for the Tinnitus Retraining Therapy Trial Research Group (2019a): Effect of Tinnitus Retraining Therapy vs. Standard of Care on Tinnitus-Related Quality of Life, in: JAMA Otolaryngology – Head & Neck Surgery, 2019;145(7):597-608
- Formby, Craig (2019): Tinnitus Retraining Therapy Trial Demonstrates the Importance of Counseling and Sound Enrichment, in: Tinnitus Today, Vol. 44, No. 2 / Summer 2019 (PDF-Version)
- Formby, Craig / Yang, Xin / Scherer, Roberta W. (2022): Contributions of Counseling and Sound Generator Use in Tinnitus Retraining Therapy: Treatment Response Dynamics Assessed in a Secondary Analysis of a Randomized Trial, in: Journal of Speech, Language and Hearing Research, Vol. 65, 816–828 (PDF-Version)
- Scherer, Roberta. W. / Formby, Craig (2019b): Audio Author Interview mit JAMA Otolaryngology – Head & Neck Surgery, online veröffentlicht am 23.5.2019
- Erdman, Sue Ann / Scherer, Roberta W. / Sierra-Irizarry B / Formby, Craig. (2019): The Tinnitus Retraining Therapy Trial’s Standard of Care Control Condition: Rationale and Description of a Patient-Centered Protocol, in: American Journal of Audiology, 2019 Sep 13;28(3):534-547
- American Speech-Language-Hearing Association (ASHA): Preferred Practice Patterns for the Profession of Audiology. https://www.asha.org/policy/pp2006-00274/ , abgerufen am 12.8.2022
- Goebel, Gerhard / Hesse, Gerhard / Mazurek, Birgit (2020): Tinnitus-Retraining-Therapie. Unpassende Bezeichnung TRT vermeiden, in: Tinnitus-Forum 1/2020, S. 24f. (PDF-Version) [Zuvor erschienen in: Hörakustik 10/2019]
- Deutsche Tinnitus-Liga: Tinnitus-Bewältigungs-Therapie, https://www.tinnitus-liga.de/pages/tinnitus-sonstige-hoerbeeintraechtigungen/tinnitus/tinnitus-retraining-therapie.php; abgerufen am 7.10.2023
- Jastreboff, Pawel J. / Hazell, Jonathan W.P. (2004): Tinnitus Retraining Therapy: Implementing the Neurophysiological Model. Cambridge, UK: Cambridge University Press
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