Berichtet Ihr Kind von einem Rauschen, Pfeifen, Piepen, Brummen oder anderem Geräusch „im Ohr“ oder „im Kopf“? Dann hat Ihr Kind höchstwahrscheinlich einen Tinnitus, im Volksmund auch „Ohrensausen“ genannt. Im Folgenden erfahren Sie, was die Ursachen sind und wie Sie Ihrem Kind am besten helfen.
Überaus wichtig ist, dass Eltern sich gut informieren und sehr besonnen verhalten. Denn wenn Sie „roten Alarm“ schlagen und sehr viel Aufmerksamkeit auf das Ohrgeräusch lenken, verstetigt und verschlimmert dies den Tinnitus nur.
In jeder Klasse ein Kind mit Tinnitus
Noch immer glauben selbst viele Ärzte, dass Ohrgeräusche unter Kindern extrem selten sind. Neuere Studien haben aber ergeben, dass jedes dritte Kind bereits einmal vorübergehend ein Ohrgeräusch erlebt hat. Etwa eines von 20 Kindern hat sogar einen dauerhaften Tinnitus – was aber nicht heißt, dass das Kind auch unter dem Geräusch leidet.
Gerade wenn Kinder einen Tinnitus in sehr jungen Jahren bekommen, nehmen sie oft an, es sei ganz normal, solche Geräusche zu hören. In der Regel gewöhnen sich die Kleinen dann auch sehr schnell an das Ohrgeräusch, sodass sie es nach einer Weile schlicht überhören und sich davon gar nicht oder kaum beeinträchtigt fühlen.
Weil solche Kinder häufig gar nicht über ihren Tinnitus sprechen, ahnen viele Eltern auch gar nicht, dass ihr Kind einen Tinnitus hat. Beispielhaft ist dieser Bericht eines Mädchens namens Sophie aus einem Internet-Forum:
„Ich bin 12 Jahre alt und habe erst vor 2 Monaten richtig realisiert dass ich Tinnitus habe. Früher dachte ich es wäre normal, ein ständiges Piepen auf dem Ohr zu haben. Mein Papa hat das auch und ihn stört es gewaltig. Mich stört es eigentlich nicht wirklich aber ich habs ja auch schon mega lange! Ich blende es eigentlich immer aus und denke nicht dran. Trotzdem würde ich natürlich gerne *nichts* hören, wenn es in meiner Außenwelt auch komplett ruhig ist…“
Wie Kinder unter Tinnitus leiden
Das ganze Ausmaß der Verbreitung von Tinnitus unter Kindern wurde erst deutlich, als Forscher in den 90er Jahren allmählich begannen, Jungen und Mädchen in großen Studien in kindgerechter Sprache und in angenehmer Umgebung zu befragen.
Das erstaunliche Ergebnis: Tinnitus kommt bei Kindern fast ebenso häufig vor wie bei Erwachsenen! (Einige internationale Studien haben sogar ein Ausmaß ergeben, das die oben genannten Werte noch deutlich übertrifft.)
Allerdings leiden Kinder zumeist deutlich weniger unter Ohrgeräuschen als Erwachsene. „Kinder sind besonders gut darin zu lernen, einen Tinnitus zu akzeptieren und zu ignorieren“, sagt der auf die Tinnitus-Behandlung spezialisierte Psychologe Dr. David Baguley vom Londoner Royal National Throat, Nose & Ear Hospital.
Zur Angstmacherei besteht ohnehin kein Anlass – das kann man gar nicht oft genug betonen. Denn erstens verschwindet ein Tinnitus meist nach einigen Tagen oder Wochen wieder. Und selbst wenn er bleibt, fühlt sich die Mehrheit der Betroffenen von dem Geräusch nach einer Weile nur noch geringfügig beeinträchtigt.
Für manche Kinder und Teenies kann sich ein Tinnitus aber zu einem ernsthaften und längerfristigen Leiden entwickeln.
Vor allem Schlaf- und Konzentrationsstörungen machen den Kleinen dann zu schaffen. Dies mindert dann nicht nur erheblich das allgemeine Wohlbefinden, sondern wirkt sich natürlich auch negativ auf das Lernvermögen bzw. die Leistungen in der Schule aus.
Wird der Tinnitus über längere Zeit als bedrohlicher Stressfaktor erlebt, so schlägt der körperliche und psychische Stress früher oder später in einen Zustand anhaltender Erschöpfung um.
Die Folge sind häufig Traurigkeit, Antriebslosigkeit und sozialer Rückzug – woraus sich schließlich sogar eine ersthafte Depression oder Angststörung entwickeln kann.
Tinnitus-Ursachen bei Kinder
Die Ursachen bzw. Auslöser des Tinnitus sind bei Kindern die gleichen wie bei Erwachsenen:
1. Hörstörungen
Hohe Lautstärken (insbesondere durch laute Musik) stören oder schädigen die empfindlichen Haarzellen in der Hörschnecke. Das bringt auch die Nervenzellen am anderen Ende des Hörnervs, im Hörzentrum des Gehirns, durcheinander.
Bei dem Versuch, die Hörstörungen zu kompensieren, kommt es dann vor, dass einige dieser Nervenzellen im Hörzentrum in eine Überaktivität geraten – was dann als Geräusch, als Tinnitus, „gehört“ wird. (Unter den Kindern mit einem erheblichen Hörschaden oder gar Taubheit klagen Studien zufolge sogar 60 bis 90 Prozent über Ohrgeräusche.
Auch viele andere Faktoren können bei Ihrem Kind Hörstörungen verursacht haben, die dann auf die gleiche Weise einen Tinnitus ausgelöst haben: Das sind vor allem:
- Infekte im Hals-, Nasen- und Ohrenbereich (Erkältung, Mittelohrentzündung, Nasennebenhöhlenentzündung usw.),
- Medikamente (z.B. einige Antibiotika)
- Schwerhörigkeit
- Hörsturz (ein plötzlich auftretender, meist einseitiger Hörverlust)
- Halswirbelsäulenstörung oder Kieferfehlstellung
Nur in ganz seltenen Fällen sind organische Erkrankungen wie die Otosklerose für einen Tinnitus verantwortlich.
Dass Ohrgeräusche durch Durchblutungsstörungen im Ohr entstehen, wie früher einmal angenommen wurde, ist übrigens schon seit vielen Jahren eindeutig widerlegt. Es ist deshalb auch erwiesenermaßen völlig sinnlos, durchblutungsfördernde Medikamente (z.B. Ginkgo-Präparate) zur Behandlung einzusetzen. (Mehr dazu hier.)
Wichtig: Auch relativ kleine und bloß vorübergehende Hörstörungen, die nicht mit einer Schädigung des Innenohres einhergehen, können sich zu einem Tinnitus aufschaukeln.
2. Stress
Probleme zuhause, Streit mit Freunden, Leistungsdruck, Konflikte oder Mobbing an der Schule, verdammt viele Erwartungen, Ängste und Sorgen, Überforderung, Unausgeglichenheit, Machtlosigkeit, Erkrankungen: Die Kindheit ist nur in den seltensten Fällen die Oase der Leichtigkeit, zu der sie Erwachsene in der Rückschau gern verklären.
Hinzu kommt seit geraumer Zeit eine unentwegte Stimulation durch Soziale Medien, Messenger-Dienste und Internet-Surfen, durch Fernsehen und YouTube, Video-, Computer- und Handy-Spiele.
All dies versetzt das Nervensystem in Stress. Stress aber – das ist eine neurophysiologische Gesetzmäßigkeit – erhöht die Empfindlichkeit im Hörsystem des Gehirns.
Hörstörungen aller Art können sich dadurch wesentlich leichter zu einem Tinnitus aufschaukeln.
Mehr noch: Sogar die ganz gewöhnliche sogenannte Spontanaktivität im Hörsystem, die uns normalerweise verborgen bleibt, kann im gestressten Zustand die Schwelle zur bewussten Wahrnehmung überschreiten und als Geräusch, als Tinnitus, „gehört“ werden.
Führenden Neurowissenschaftlern gilt es tatsächlich längst als erwiesen: Stress allein kann einen Tinnitus verursachen, ohne dass es dazu irgendeiner Hörstörung bedarf.
3. Andere Faktoren
Noch zwei weitere Faktoren steigern das Tinnitus-Risiko ganz erheblich: allzu große Stille und Geräuschüberempfindlichkeit.
In ganz stiller Umgebung schraubt das Hörsystem nämlich automatisch seine interne Verstärkung herauf. Es strengt sich quasi an, irgendetwas zu hören. Im Falle einer Geräuschüberempfindlichkeit ist die Verstärkung im Hörsystem dauerhaft erhöht, sodass bereits gewöhnliche Alltagsgeräusche unangenehm laut erscheinen.
In beiden Fällen steigt – genauso wie wie bei Stress – die Wahrscheinlichkeit, dass bei Hörstörungen ein Tinnitus entsteht. Und wie bei Stress gilt: Absolute Stille oder eine Geräuschüberempfindlichkeit können einen Tinnitus auslösen, ohne dass es einer Hörstörung bedarf.
Zusammenspiel
Besonders groß ist das Tinnitus-Risiko, wenn mehrere der oben genannten Risikofaktoren zusammenkommen.
So führen Hörstörungen durch Lärm oder eine HNO-Erkrankung meist erst dann zu einem Ohrgeräusch, wenn sie durch Stress, allzu große Stille oder eine Geräuschüberempfindlichkeit verstärkt werden.
Daher ist es fast immer müßig, nach der einen Tinnitus-Ursache zu suchen. Denn in der Regel ist ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren verantwortlich, das sich im Nachhinein zwar meist schlüssig rekonstruieren, aber kaum mit absoluter Gewissheit ermitteln lässt.
Wie Eltern Ihrem Kind bei Tinnitus helfen
Mit den hier beschriebenen einfachen Maßnahmen können Sie aktiv die Wahrscheinlichkeit enorm erhöhen, dass der Tinnitus Ihres Kindes entweder wieder ganz verschwindet oder zumindest nicht zu einem größeren Problem wird.
Unbedingt erforderlich ist natürlich eine umgehende, gründliche ärztliche Diagnose und gegebenenfalls Behandlung. Dabei sind etwaige organische bzw. neurologische Ursachen abzuklären, insbesondere Erkrankungen des Ohres.
Wichtig: Die gängigen HNO-ärztlichen Akutmedikationen zielen praktisch ausschließlich auf eine Förderung der Durchblutung bzw. Nährstoffversorgung und damit eine „Reparatur“ vermeintlicher Schäden im Innenohr. Belassen Sie es auf keinen Fall dabei!
Ein Tinnitus entwickelt sehr, sehr schnell ein „Eigenleben“ und verstetigt sich, ganz unabhängig vom Fortbestehen vermeintlicher Auslöser oder Ursachen.
Enorm viel wichtiger als Gingko-Tabletten ist daher, das Kind vom ersten Tag an so weit wie möglich vom Tinnitus abzulenken, z.B. mit schönen, entspannenden Aktivitäten und viel Bewegung. Je weniger Aufmerksamkeit der Tinnitus bekommt,je weniger das Kind sich auf das Geräusch fixiert, desto besser.
Identifizieren Sie Faktoren für negativen Stress im Leben Ihres Kindes (Ängste, Sorgen, Belastungen, Überforderungen) und stellen Sie sie so weit wie möglich ab
.Vermitteln Sie dem Kind von Beginn an Zuversicht („Alles wird gut!“ / „Bald ist das Geräusch ganz sicher wieder weg!“). Wenn Sie in Besorgtheit, Angst und Alarmismus verfallen, wird sich das immer auf Ihr Kind übertragen, ganz egal was Sie Ihrem Kind vordergründig sagen. Dies ist dem Heilungsprozess sehr abträglich.
Interessanterweise geben Kinder von Eltern mit Tinnitus häufiger an, selbst unter Ohrgeräuschen zu leiden. Offensichtlich machen sich Kinder dabei die negative Reaktion der Eltern auf Ohrgeräusche zu eigen.
Vermeiden Sie unbedingt völlige Stille! Sorgen Sie dafür, dass Ihrem Kind möglichst durchgängig eine akustische Ablenkung zur Verfügung steht. Diese muss freilich stets angenehm sein und darf Ihr Kind nicht stressen. Besonders geeignet sind schöne Musik, Hörspiele und entspannende Naturgeräusche.
Die britische Zeitung Daily Mail berichtete im Jahr 2014 in einem rührenden Artikel über den elfjährigen Leo. Der Junge litt so sehr unter seinem Tinnitus, dass er kaum schlafen konnte. Hörspezialisten der örtlichen Klinik gaben ihm auf, Aufnahmen von Gartenvögeln zu hören, und bald ging es Leo wieder gut!
Auch eine gezielte Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) hat sich bei jungen Tinnitus-Leidenden als äußerst wirkungsvoll erwiesen: In einer Studie (Bartnik et. al., 2012) mit 143 Mädchen und Jungen erreichte die TRT schon nach sechs Monaten eine deutliche Besserung bei immerhin vier von fünf Kindern.
Sollte das Ohrgeräusch Ihr Kind über längere Zeit belasten, ziehen Sie einen Kinderpsychologen heran. Dieser könnte gegebenenfalls auch helfen, tiefere seelische Belastungen aufzulösen, die das Tinnitusleiden möglicherweise mit ausgelöst haben und jetzt verschlimmern.
Wenn sich Ihr Kind sich oft die Ohren zuhält und ungewöhnlich empfindlich auf Geräusche reagiert, ist das ein klares Anzeichen für eine Geräuschüberempfindlichkeit (Hyperakusis), die in jedem Fall behandelt werden muss. Hier gibt es erfolgreiche Methoden für eine Desensibilisierung.
JS
Quellen
- Baguley, Dr. David/ Andersson, Dr. Gerhard/ McFerran, Dr. Don/ McKenna, Dr. Laurence: Tinnitus – A Multidisciplinary Approach. 2nd Edition. 2013, Oxford. S. 209-215
- McKenna, Dr. Laurence/ Baguley, Dr. David /McFerran, Dr. Don: Living with Tinnitus and Hyperacusis. 2010, London. S. 22-23
- Coelho, C.B./ Sanchez, T.G./ Tyler, R.S.: Tinnitus in children and associated risk factors. Progress in Brain Research, 166. S. 179-191
- Gabriels, P: Children with Tinnitus. In: Proceedings of the fifth international Tinnitus Seminar. 1995, Portland. The American Tinnitus Association.
- Holgers, K.M./ Juul, J.: The suffering of tinnitus in childhood and adolescence. In: International Journal of Audiology, 45. S. 267-272
- Bartnik et. al.: Troublesome tinnitus in children. Epidemiology, audiological profile and preliminary results of treatment. In: International Journal of Paediatric Otorhinolaryngology. 2012
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