„Lenire“ heißt ein neues Gerät, das angeblich bei 80 Prozent der Betroffenen den Tinnitus lindert. Mit einer scheinbar positiven Studie und einer cleveren PR-Strategie hat die Firma Neuromod dazu ein sehr wohlwollendes Presseecho erzeugt. Tinnitus-Experten bezweifeln aber, dass die Therapie hilft.
Ein „Durchbruch in der Tinnitus-Behandlung“ soll „Lenire“ laut Werbung sein. Das Verfahren dahinter nennt sich „bimodale Neuromodulation“ – was schlicht bedeutet, dass das Gehirn zweierlei Sinnesreize zugleich empfängt. So wird einerseits die Zunge elektrisch gereizt, andererseits werden bestimmte Töne abgespielt.
Das Verfahren geht auf Tierversuche zurück, bei denen die Stimulation bestimmter Großhirnzentren Lerneffekte verbesserte. Bei einem Tinnitus-Leiden soll die elektrisch-akustische Doppel-Reizung offenbar den Lerneffekt der sogenannten Habituation fördern, nach dem sich das Gehirn an das Ohrgeräusch gewöhnt, wodurch es weniger stört.
Tinnitus-Betroffene müssen dafür tief in die Tasche greifen: Die Kosten für das „Lenire“-Gerät belaufen sich auf mindestens rund 2700 Euro – wobei dieser Preis die Betreuung durch einen HNO-Arzt oder Hörgeräteakustiker einschließt. Die Therapie ist eine reine Privatzahlerleistung. Die Krankenkassen beteiligen sich nicht.
Kann „Lenire“ Tinnitus lindern?
Dass eine gezielte Stimulation von Sinnesorganen erwünschte Lern- und Verarbeitungsvorgänge im Gehirn begünstigen kann, wie „Lenire“ es vorgibt, ist gar nicht abwegig.
So basiert etwa die inzwischen allgemein anerkannte psychotherapeutische Methode EMDR („Eye Movement Desensitization and Reprocessing“) darauf, dass gezielte Augenbewegungen, akustische oder taktile Reize die Verarbeitung und Integration z.B. von Traumata befördern. (Bei der Posttraumatischen Belastungsstörung ist EMDR längst Mittel der Wahl und in seiner Wirkung unbestritten.)
Die „Wissenschaft hinter Lenire“, wie Neuromod es nennt, kommt also nicht vollends aus dem Phantasialand – auch wenn die Firma in der Beschreibung des Wirkmechanismus merkwürdig vage bleibt.
Das Problem ist:
Die als großer Wurf dargestellte Studie, mit der Neuromod Tinnitus-Betroffene von „Lenire“ überzeugen möchte, ist so offensichtlich mangelhaft, dass sie nicht als seriös gelten kann.
Zwar wollen wir nicht ausschließen, dass „Lenire“ bei manchen Tinnitus-Leidenden zumindest eine geringfügig positive Wirkung entfalten mag. Für die vom Hersteller suggerierte hohe allgemeine Wirksamkeit gibt es aber de facto keinen wissenschaftlichen Beleg.
Tinnitus-Liga kritisiert Lenire-Studie
Der Fachliche Beirat der Deutschen Tinnitus-Liga (DTL) befasste sich in seiner Jahressitzung 2021 sehr eingehend mit „Lenire“ – und kam zu einem geradezu vernichtenden Urteil.
So beschloss der Beirat, dass die DTL
„nicht zur Teilnahme an Studien für dieses Gerät und schon gar nicht zum Erwerb dieses Gerätes aufrufen wird“.
Die neun anwesenden Experten, darunter die angesehenen Tinnitus-Forscher Prof. Dr. Gerhard Hesse, Prof. Dr. Gerhard Goebel und Prof. Dr. Birgit Mazurek fassten den Beschluss einstimmig.
Wie der Beiratssprecher Hesse im DTL-Mitgliedermagazin Tinnitus Forum (Ausgabe 2-2021) berichtet, haben die Experten erhebliche Zweifel an der Aussagekraft der besagten Studie.
Auch wir haben die „Lenire“-Studie samt des Studienprotokolls und der „ergänzenden Informationen“ (insg. 47 englischsprachige Seiten) genau unter die Lupe genommen.
Im Folgenden erhalten Sie einen Überblick über die wichtigsten Mängel und Ungereimtheiten, wobei wir die Kritikpunkte der DTL-Experten unterfüttern und ergänzen.
Mangelnde Unabhängigkeit
Alles beginnt mit der Tatsache, dass die Studie hauptsächlich von Mitarbeitern des „Lenire“-Unternehmens Neuromod durchgeführt wurde, wie Hesse moniert:
„Beachtenswert und eigentlich der Hauptkritikpunkt der Studie ist, dass von den insgesamt 13 Autoren acht direkt bei der Firma angestellt sind, die das Gerät auch verkauft. Weitere drei Autoren beziehen Beraterhonorare von dieser Firma. Von daher handelt es sich mit Sicherheit nicht um eine unabhängige Studie.“
Die Studie wurde hauptsächlich im irischen Dublin in dem am St. James Hospital ansässigen Wellcome Trust-Forschungszentrum durchgeführt. Diese Einrichtung ist als Dienstleister darauf ausgerichtet, klinische Studien für Unternehmen zu erstellen.
Praktischerweise hat Neuromod Devices Ltd. – in der Studie schlicht „Sponsor“ genannt – seinen Hauptsitz ebenfalls in Dublin. So hatten es die vielen Neuromod-Mitarbeiter, die als Studienautoren auftreten, nicht weit in die Klinik.
Ein Fünftel der Studienteilnehmer wurde am Tinnituszentrum der Universität Regensburg betreut, unter Aufsicht von Chefarzt Berthold Langguth, seines Zeichens auch Leiter des Zentrums für Neuromodulation der Universität – und Berater von Neuromod.
Nur ein Placebo-Effekt?
Der Fachliche Beirat der Tinnitus-Liga vermutet außerdem, dass der vermeintliche Behandlungserfolg in der Studie TENT-A1 („Treatment Evaluation of Neuromodulation for Tinnitus“) zumindest teilweise auf einem Placebo-Effekt beruhen könnte.
Eine „Placebo-Kontrolle“, wie in großen medizinischen Studien eigentlich üblich, sparte sich Neuromod. Das heißt, die „Lenire“-Tester wurden nicht einer Vergleichsgruppe gegenübergestellt, die lediglich eine Scheinbehandlung erhielt.
Nur eine solche „Placebo-Kontrolle“ aber hätte klären können, ob die „Lenire“-Behandlung überhaupt eine Wirkung hat, die über einen Placebo-Effekt hinausgeht.
Denn gerade in Studien mit ganz neuen Behandlungsformen kommt es bei den in der Regel hochmotivierten und hoffnungsvollen Probanden immer wieder zu gewissen Verbesserungen – auch wenn sich die Behandlung später als unwirksam herausstellt.
Man denke hier nur an die Erfahrungen mit dem berüchtigten, ebenfalls äußerst kostspieligen „CR-Neurostimulator“ des Forschungszentrums Jülich. Dieser wurde von der Firma ANM vor rund einem Jahrzehnt ebenfalls mit einer scheinbar positiven (selbst fabrizierten) Studie beworben, konnte die Erwartungen in der Praxis aber nie erfüllen.
Bei der „Lenire“-Studie wurden die insgesamt 326 Probanden in drei Gruppen aufgeteilt. Die ersten beiden Gruppen erhielten als akustische Stimulation ein breitbandiges Rauschen zusammen mit Sinustönen über einen großen Frequenzbereich bis 8000 Hertz (wobei die Töne in Gruppe 1 gleichzeitig mit den Zungenimpulsen abgespielt wurden, in Gruppe 2 dagegen mit einer winzigen Verzögerung).
Die Probanden der dritten Gruppe bekamen dagegen eine vollkommen andere Stimulation. Hier umfasste das Rausch-Ton-Gemisch nur die tiefen Frequenzen bis 500 Hertz, und dies mit einer 25 Mal größeren Verzögerung zu einer zigmal langsameren Zungenreizung.
Erstaunlicherweise minderte sich die Tinnitus-Belastung im Zuge der zwölfwöchigen Anwendung bei allen Gruppen gleichermaßen – auch bei der dritten.
Hesse bemängelt nun, dass die „Lenire“-Studie diese frappierende Auffälligkeit, die aus Sicht des Experten einen Placebo-Effekt „zumindest nahelegt“, überhaupt nicht diskutiert.
Verbesserung durch Aufklärung?
Darüber hinaus hegt der DTL-Fachbeirat offenbar den Verdacht, dass der scheinbare „Behandlungserfolg“ vor allem auf der Aufklärung bzw. Beratung der Teilnehmer beruhen könnte.
So kritisiert Hesse an der Studie,
„dass nicht ausgeführt wird, was neben der umfangreichen Diagnostik […] an Beratung (Counseling) durchgeführt wurde, ob eine Aufklärung zu Ursachen und Folgen des Tinnitus-Leidens erfolgte oder nicht. Da diese Aufklärung bekanntermaßen eine hohe therapeutische Wirkung hat, hätte sie in der Arbeit unbedingt erwähnt werden müssen.“
Anhand vieler wissenschaftlicher Untersuchungen ist nämlich bekannt, dass der große Erfolg etwa der Tinnitus-Retraining-Therapie oder des Tinnitus-Bewältigungs-Trainings zu einem beträchtlichen Teil auf einer bestimmten Art der Aufklärung beruht.
Studien konnten sogar zeigen, dass allein die richtige Aufklärung deutliche (und nachhaltige) Verbesserungen eines Tinnitus-Leidens bewirken kann, selbst ohne weitere Behandlung.
Die „Lenire“-Studie lässt offen, inwieweit eine solche Aufklärung oder Beratung der Teilnehmer stattfand.
Fest steht aber, dass die Teilnehmer von einem Team aus Ärzten, Audiologen, Physiotherapeuten und wissenschaftlichen Assistenten höchst umfangreich betreut wurden, wie ein Blick in das Studienprotokoll zeigt:
- Jeder „Lenire“-Tester sollte insgesamt sieben Besuche in der jeweiligen Klinik absolvieren. Hinzu kamen zwei Telefonanrufe während der zwölfwöchigen Behandlung.
- Allein vier Mal wurde jeder Teilnehmer während dieser zwölf Wochen zum Einhalten bzw. Fortsetzen der empfohlenen Anwendung angehalten.
Unklare Teilnehmerauswahl
Ein weiterer Kritikpunkt des Fachlichen Beirats der DTL lautet, dass unklar sei, nach welchen Kriterien die 326 Studienteilnehmer aus Tausenden von Interessenten ausgewählt wurden.
Wurden möglicherweise solche Tinnitus-Betroffenen bevorzugt, bei denen eine gewisse Verbesserung der empfundenen Beeinträchtigung wahrscheinlicher schien?
Warum z.B. waren zwei Drittel (65%) der Studienteilnehmer Männer und nur ein Drittel (35%) Frauen? Vielleicht, weil Männer etwas technikaffiner oder technikgläubiger sind?
Allein in der bloßen Auswahl der „richtigen“ Teilnehmer verbirgt sich jedenfalls ein beträchtliches Potenzial für „Manipulationen“ einer Studie in Richtung des erwünschten Ergebnisses.
Tatsächlich hatten sich 7627 Interessenten für die Studie registriert, von denen 5826 die Online-„Eignungsprüfung“ in Form eines Fragebogens abschlossen. Nur 698 von Ihnen wurden für weitere Untersuchungen in die Klinik eingeladen, 333 schließlich für die Studie ausgewählt.
Nach welchen Kriterien die beiden Auswahlschritte erfolgten, bleibt jedoch im Dunkeln.
Zwar wurden diverse Ausschlusskriterien definiert, etwa ein Alter über 70 Jahre, ein Tinnitus von mehr als 5 Jahren Dauer, ein pulssynchroner Tinnitus oder eine Schallleitungsschwerhörigkeit.
Diese Merkmale allein können das „Aussortieren“ der Interessenten aber nicht erklären. Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang eine Randbemerkung im Studienprotokoll:
„Und schließlich darf ein Patient ausgeschlossen werden, wenn der Leitende Wissenschaftler den Kandidaten für nicht geeignet hält aus anderen Gründen als den oben genannten.“
Mit anderen Worten: Man hielt sich von Vornherein offen, Interessenten letztlich willkürlich auszuwählen, ohne dass die Kriterien hierfür transparent gemacht werden.
Neuauflage statt „Neu“
Beiratssprecher Hesse vermochte seinen Unmut offenbar schon in der Überschrift seines Berichts nicht zu verhehlen: „‚Neue‘ Therapieverfahren auf dem Prüfstand“, heißt es da – „Neue“ in Anführungszeichen. „Neu“ ist das Verfahren der bimodalen Neuromodulation nämlich nicht.
Der Fachliche Beirat verweist darauf, dass bereits vor einigen Jahren „eine derartige Therapie“ vorgestellt wurde, die in Studien jedoch „keine wirklich dauerhaften Erfolge“ erbrachte.
Bei dieser Form der bimodalen Neuromodulation wurde der vom Hirnstamm ausgehende Vagus-Nerv durch Elektroden am Hals stimuliert, ebenfalls kombiniert mit dem Hören bestimmter Töne.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgten ab 2017 US-amerikanische Forscher, die sich vor allem mit dem sogenannten somatosensorischen Tinnitus beschäftigten, also mit Ohrgeräuschen, die durch Störungen von Halswirbelsäule oder Kiefer verursacht oder beeinflusst werden.
Diese Forschergruppe testete eine Tinnitus-Behandlung, bei der ein anderer wichtiger Hirnnerv – der Trigeminus-Nerv – über Elektroden an Wange und Stirn gereizt wurde, kombiniert mit Tönen, die auf die Tinnitus-Höhe abgestimmt waren. Eine Studie erbrachte kurzfristige Verbesserungen – die aber nur für etwa drei Wochen anhielten.
Bei einer weiteren Variante dieser bimodalen Neuromodulation wird der Trigeminus-Nerv über den Zungennerv gereizt, kombiniert mit einer akustischen Stimulation, die nicht auf die Höhe des Tinnitus abgestimmt ist, aber das individuelle Hörvermögen berücksichtigt. Eben dieser Ansatz wird jetzt als „Lenire“ vermarktet.
„Technische Sicherheit“
Grundsätzlich bemängelt der DTL-Fachbeirat in seiner Stellungnahme, dass es in Deutschland „sehr leicht“ sei, ein Gerät für therapeutische Zwecke auf den Markt zu bringen.
Erforderlich ist demnach lediglich eine sogenannte CE-Klassifizierung bzw. ein CE-Zeichen. Das Zeichen bescheinigt aber nicht den therapeutischen Nutzen, sondern bloß die technische Sicherheit.
Weitere Ungereimtheiten und Auffälligkeiten
Die oben aufgeführten Kritikpunkte stellen sämtliche Ergebnisse der „Lenire“-Studie grundsätzlich in Frage. Zusätzlich möchten wir hier noch auf einige weitere Aspekte hinweisen, welche die Neuromod-Erzählung von der erfolgreichen „Lenire“-Therapie erheblich trüben.
Warum nur zwölf Wochen?
Ganz grundsätzlich drängte sich uns angesichts der von Neuromod angepriesenen Studienergebnisse sofort eine Frage auf:
- Wenn die „Lenire“-Therapie wirklich so gut wirkt, warum sollten die Probanden das Gerät nach zwölf Wochen zurückgeben, statt mit einer Fortsetzung eine weitere Verbesserung erzielen zu dürfen?
- Oder anders gefragt: Wenn das Gerät wirklich so gut hilft, warum bringt sich Neuromod dann selbst um den Nachweis eines noch größeren Fortschritts nach z.B. sechs Monaten?
Die erstaunliche Antwort liefert die Studie tatsächlich ganz explizit mit: Eine längere Anwendung hätte schlichtweg keine weitere Verbesserung mehr erbracht!
Denn die Minderung der Tinnitus-Belastung stellte sich nicht relativ konstant im Laufe der zwölf Wochen ein, sondern fast vollständig schon schon gleich zu Beginn, innerhalb der ersten sechs Wochen.
Danach ergab sich nur noch eine „minimale zusätzliche Verringerung“, wie die Studienautoren feststellen.
Wenn aber „Lenire“ tatsächlich im Gehirn solch heilsame Lern- und Verarbeitungsprozesse anregt, warum sollte damit nach zwei, vier oder sechs Wochen plötzlich Schluss sein?
Die Studienautoren haben dafür eine kreative Hypothese parat: Das Gehirn gewöhne sich offenbar an die Stimulation, weshalb ihre Wirkungsdauer begrenzt sei.
Was vor diesem Hintergrund vollends absurd erscheint:
Viele HNO-Ärzte und Akustiker räumen Tinnitus-Patienten für weniger als 1000 Euro eine bis zu achtwöchige „Probephase“ zum Testen von „Lenire“ ein. Danach kann man entscheiden, ob man das Gerät zum Preis von mindestens 2700 Euro kaufen möchte.
Hätten sich diese Behandler die „Lenire“-Studie einmal durchgelesen, wüssten Sie, dass diese ganz ausdrücklich ergeben hat, dass spätestens nach sechs Wochen Anwendung nicht mehr mit einer weiteren nennenswerten Verbesserung zu rechnen ist.
Ein Wundergerät?
Interessant ist auch ein Blick auf die „Ergänzenden Informationen“ zur Studie. Dort ist in Abbildung „S11“ ersichtlich, dass sich Teilnehmer mit einer sehr langen „Lenire“-Nutzungsdauer offenbar kaum mehr verbesserten als solche, die das Gerät nur wenig nutzten. (Jedes Gerät hatte die tägliche Nutzungsdauer exakt aufgezeichnet.)
Kurioserweise nahm die Tinnitus-Belastung auch bei diversen Probanden, die das Gerät nur minimal nutzten, deutlich ab. Daraus lassen sich im Grunde nur zwei Schlüsse ziehen:
Entweder ist „Lenire“ ein dermaßen phänomenales Wundergerät, dass man es – überspitzt gesagt – nur anschauen braucht, um eine Linderung der Tinnitus-Belastung zu erfahren.
Oder aber diese Linderung während der Studie hatte – wie oben schon vermutet – hauptsächlich andere Gründe und rührte nicht in erster Linie von der „Lenire“-Nutzung selbst her.
Relative (Un-)Zufriedenheit
Wenn wir uns einmal ansehen, was die Studie eigentlich als „Behandlungserfolg“ erbrachte, so ist am anschaulichsten und aussagekräftigsten wohl die Zufriedenheit der Testpersonen.
Nach Abschluss der zwölfwöchigen Behandlung (während der sie „Lenire“ täglich eine Stunde lang nutzen sollten) wurde den Probanden die Frage gestellt: „Würden Sie insgesamt sagen, dass Sie von der Nutzung des Gerätes profitiert haben?“
Zwei Drittel (66,5%) der Befragten antworte hier „Ja“, ein Drittel (33,5%) sagte „Nein“.
In dieses Ergebnis flossen allerdings nur „therapietreue“ Teilnehmer ein, die das Gerät für insgesamt mindestens 36 Stunden betrieben hatten (was einer täglichen Nutzung von nur 26 Minuten entspricht). Dies waren aber bloß 83,7% aller Teilnehmer.
Daraus folgt:
Nur rund jeder zweite Teilnehmer der Studie (55,6%) nutzte das Gerät auch in nennenswertem Umfang und gab anschließend an, davon profitiert zu haben.
Anders ausgedrückt:
Immerhin fast die Hälfte aller Teilnehmer wollte „Lenire“ entweder kaum bis gar nicht nutzen oder verspürte durch die Anwendung keine positive Wirkung.
Statt mit dem (nicht so berauschenden) Zufriedenheitswert wirbt Neuromod damit, dass rund 78% der – „therapietreuen“ – Probanden gesagt hätten, sie würden die Behandlung „anderen Menschen mit Tinnitus weiterempfehlen“.
In Wirklichkeit waren die – „therapietreuen“ – Teilnehmer aber gefragt worden, ob Sie einem Bekannten mit Tinnitus „empfehlen würden, diese Behandlung auszuprobieren„. Es handelte sich also nur um die prinzipielle Bereitschaft zu einer „Empfehlung“ im Sinne von „Probier es doch mal aus – vielleicht hilft es ja“.
So wird auch verständlich, warum selbst diverse Probanden, die nach den eigenen „Lenire“-Erfahrungen keinen Nutzen in dem Gerät sahen, ein „Ausprobieren“ der Behandlung empfahlen.
Vermutlich hat dies auch mit der Wortwahl zu tun. Denn die Frage nach der Zufriedenheit bezog sich auf „das Gerät“, die Empfehlungsfrage auf „die Behandlung“ – was aus Sicht der Teilnehmer wohl auch die Untersuchungen und die „Betreuung“ einschloss.
Vermeintliche Verbesserung
Besonders offensiv brüstet sich Neuromod mit dem Ergebnis einer Tinnitus- Linderung bei rund vier von fünf Testpersonen. Auch hier lohnt sich aber ein näherer Blick.
Jeder Proband füllte mehrmals zwei standardisierte Fragenbögen aus („Tinnitus Handicap Inventory“ und „Tinnitus Functional Index“), die verschiedene Aspekte der persönlichen Beeinträchtigung durch den Tinnitus abfragen. Und zwar vor Therapiebeginn, zur Halbzeit nach sechs Wochen, nach Therapieende und ein Jahr später.
Hier ergab sich nach Therapieende eine Verbesserung bei 81 Prozent der „therapietreuen“ Probanden.
Ein Jahr später war noch bei 77 Prozent der „Therapietreuen“ eine Verbesserung gegenüber dem Ausgangswert zu verzeichnen. Da die meisten „Lenire“-Tester aber nicht mehr zur Abschlussuntersuchung erschienen, bezieht sich dieser Wert nur auf 46 Prozent der Teilnehmer.
Was leider vollkommen unseriös ist:
Neuromod gibt öffentlich höhere Verbesserungswerte an, die in der Studie überhaupt nicht auftauchen.
Und zwar, indem nur die vorteilhafteren Werte des ersten (sehr groben) Fragebogens genutzt werden, während man die schlechteren Werte des genaueren Fragebogens ausblendet.
Als Mittelwert beider Fragebögen ergab sich übrigens auf einer Skala von „0“ (keinerlei Beeinträchtigung) bis „100“ (extremes Tinnitus-Leiden) eine Besserung um durchschnittlich rund 14 Punkte.
Nebenwirkungen
In der „Lenire“-Untersuchung klar beziffert ist, dass viele Probanden im Zuge der Doppel-Stimulation ungute Erfahrungen machten – und zwar in Form einer Verschlechterung der Tinnitus-Symptome.
Immerhin 52 der 326 Studienteilnehmer berichteten von einer Verschlimmerung des Tinnitus, 7 von ihnen sogar von einer – in den Worten der Studie – „dramatischen“ Verschlimmerung. Völlig risikofrei ist die „Lenire“-Anwendung also offenbar nicht.
Teilnehmerauswahl
Schließlich sollte noch beachtet werden, dass es für die Teilnahme an der Studie etliche Ausschlusskriterien gab, insbesondere:
- Tinnitus kürzer als 3 Monate oder länger als 5 Jahre
- Alter unter 18 oder über 70 Jahre
- geringfügiges oder äußerst starkes Tinnitus-Leiden
- starke Geräuschüberempfindlichkeit (Hyperakusis)
- Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD; eine weit verbreitete Funktionsstörung des Kiefers)
- pulsatiler Tinnitus (rhythmischer, meist pulssynchroner Tinnitus)
- ausgeprägte Depression oder Angststörung
- Einnahme von Medikamenten, die auf das zentrale Nervensystem einwirken (z.B. Psychopharmaka)
- Nutzung eines Hörgeräts
- erhebliche (Schallempfindungs-)Schwerhörigkeit
- jegliche Schallleitungsschwerhörigkeit
- Morbus Menière
Für viele Tinnitus-Betroffene haben die Ergebnisse der Studie also schon deshalb keine Aussagekraft, weil Probanden mit ihren Merkmalen von der Studie ausgeschlossen waren.
Ein bisschen Habituation
Unter dem Strich kann die Studie aufgrund ihrer vielen groben Mängel nicht als Beleg für eine Wirksamkeit von „Lenire“ gelten.
Wir wollen aber auch festhalten, dass die lange „Mängel-Liste“ nicht die völlige Unwirksamkeit des Gerätes belegt.
Unter all den „viel versprechenden“ Geräten, die bei Tinnitus beworben werden oder wurden, gehört „Lenire“ möglicherweise sogar noch zu den sinnvolleren Behandlungen. (Wobei die Messlatte hier wirklich sehr niedrig liegt, wenn man etwa an die berüchtigten, vollkommen sinnlosen „Ohrenlaser“ denkt.)
Von Ansatz her richtig
Im Kern beabsichtigt die „Lenire“-Behandlung ja ganz einfach, im Gehirn einen Lerneffekt anzuregen, der die Beeinträchtigung durch den chronischen Tinnitus abbaut.
Dieser Lerneffekt aber ist nichts anderes als der ebenso natürliche wie heilsame Vorgang der Habituation. (Die in der Studie verwendeten Fragebögen zur Tinnitus-Belastung messen ja letztlich schlicht und einfach den Grad der Habituation.)
Dank dem fest in unserem Wahrnehmungsapparat verankerten Bestreben zur Habituation gewöhnt sich das Gehirn allmählich an ungefährliche, unwichtige Reize – und blendet diese dann zunehmend aus, sodass wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen.
Die Habituation greift auch bei Ohrgeräuschen – mal mehr, mal weniger gut. Sie ist tatsächlich der alleinige Grund, warum eine Mehrheit aller Menschen, die einen Tinnitus haben, nicht darunter leidet. Denn ein gut „habituierter“ Tinnitus stört nicht mehr, weshalb man ihn dann die meiste Zeit über schlicht überhört.
Anders gesagt: Wenn jemand – noch – unter einem Tinnitus leidet, dann allein aus dem Grund, dass die Habituation blockiert ist bzw. auf einem unbefriedigenden Level ins Stocken geraten ist.
Den heilsamen Vorgang der Habituation in Gang zu setzen und so weit wie möglich voranzutreiben, ist daher das ganze Ziel und das ganze Geheimnis jeder wirklich wirksamen Tinnitus-Therapie (sofern keine behandelbaren körperlichen Ursachen zu finden sind).
Es geht auch anders
In Bezug auf „Lenire“ stellt sich hier die Frage: Stehen die horrenden Kosten von rund 3000 Euro in einem Verhältnis zum überschaubaren Nutzen (sofern das Gerät überhaupt eine Wirkung hat)?
Einen störenden Tinnitus zu einem unwichtigen Reiz werden zu lassen, den man weitgehend überhört, ist schließlich kein „Voodoo“.
So lautet eine neurophysiogische Binsenweisheit, dass Entspannung die Habituation fördert: Die Habituation läuft umso besser ab, je entspannter man ist (während ein hohes Maß von Angst und Stress die Habituation zuverlässig blockiert).
Auch eine bestimmte Form der Aufklärung, durch die der Tinnitus begreifbar und handhabbar wird, fördert die Habituation erheblich. Das gleiche bewirken ein systematisches Meiden von Stille (am besten durch eine gezielte, dezente „Klanganreicherung“) oder bestimmte psychologische Maßnahmen aus der kognitiven Verhaltenstherapie.
Aktuelle multimodale Therapien wie das (mittlerweile um entspannungs- und verhaltenstherapeutische Maßnahmen erweiterte) Tinnitus-Retraining oder das Tinnitus-Bewältigungs-Training kombinieren die genannten „Habituations-Helfer“ mit hoher Wirksamkeit.
Die wirksamsten Elemente dieser erfolgreichen Therapien sind inzwischen sogar in Form eines einfachen Selbsthilfe-Programms verfügbar – für nicht einmal ein Fünfzigstel des Preises von „Lenire“.
Unser Fazit
Nicht immer teilen wir die Ratschläge der DTL. Die Kritik des Fachlichen Beirats im Fall von „Lenire“ trifft aber ohne Zweifel ins Schwarze.
Zwar ist es grundsätzlich natürlich begrüßenswert, wenn neue Ansätze der Tinnitus-Therapie erforscht und erprobt werden. Die „Lenire“-Studie dient unserem Eindruck nach allerdings weniger der Wissenschaft als vielmehr dem Marketing.
Dennoch:
Das Potenzial der gerätegestützten „Neuromodulation“ für die Tinnitus-Therapie ist möglicherweise noch nicht ausgeschöpft. Künftige Entwicklungen der neurowissenschaftlichen Tinnitus-Forschung könnten hier noch Fortschritte bringen.
Quellen
- Hesse, Gerhard: „Neue“ Therapieverfahren auf dem Prüfstand. In: Tinnitus Forum 2-2021, S. 26-29.
- Die Empfehlung des Fachlichen Beirats der DTL bezüglich Lenire erging einstimmig von allen anwesenden Mitgliedern: Prof. Dr. Gerhard Hesse (Sprecher des Beirats), Prof. Dr. Dr. Gerhard Goebel (stv. Sprecher des Berats), Prof. Dr. Birgit Mazurek, Dr. Elisabeth Wallhäußer-Franke, Siegrid Meier, Dr. Frank Matthias Rudolph, Dr. Volker Kratzsch, Dr. Patrick Schunda, Dr. Roland Zeh.
- B. Conlon, B. Langguth, C. Hamilton, S. Hughes, E. Meade, C. O Connor, M. Schecklmann, D. A. Hall, S. Vanneste, S. L. Leong, T. Subramaniam, S. D’Arcy, H. H. Lim: Bimodal neuromodulation combining sound and tongue stimulation reduces tinnitus symptoms in a large randomized clinical study. In: Science Translational Medicine, Vol. 12 / 2020.
- Supplementary Materials for ‚Bimodal neuromodulation combining sound and tongue stimulation reduces tinnitus symptoms in a large randomized clinical study‘
- D’Arcy S, Hamilton C, Hughes S, et al.: Bi-modal stimulation in the treatment of tinnitus: a study protocol for an exploratory trial to optimise stimulation parameters and patient subtyping. BMJ Open 2017;7:e018465. doi:10.1136/bmjopen-2017-018465
- K. L. Marks, D. T. Martel, C. Wu, G. J. Basura, L. E. Roberts, K. C. Schvartz-Leyzac, S. E. Shore, Auditory-somatosensory bimodal stimulation desynchronizes brain circuitry to reduce tinnitus in guinea pigs and humans. Sci. Transl. Med. 10, eaal3175 (2018).
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