Wenn Sie gerade unter einem akuten Ohrgeräusch leiden, rät Ihnen Ihr HNO-Arzt womöglich zu Infusionen oder Spritzen mit Kortison. Leider muss man dafür tief in die Tasche greifen, weil die gesetzlichen Krankenkassen die Behandlung nicht zahlen. Lohnt sich das?
In unserem großen, unabhängigen Ratgeber erhalten Sie hier verlässliche Antworten auf die Fragen:
- Kann Kortison bei Tinnitus tatsächlich helfen? In welchen Fällen macht die Behandlung Sinn?
- Was kostet die Infusionstherapie bei Tinnitus? Wie läuft sie ab?
- Welche Vorteile haben Kortison-Spritzen? Wirken Kortison-Tabletten genauso gut?
- Das Urteil der Wissenschaft: Was sagen Studien zu Kortison bei Tinnitus?
Wenn wir am Ende dieses Artikels unser Fazit ziehen, sind Sie bestmöglich informiert, um die richtige Entscheidung über Ihre Behandlung zu treffen.
Legen wir also los!
Ein Medikament gegen Tinnitus?
Bei einem akuten (also erst vor wenigen Tagen oder Wochen aufgekommenen) Ohrgeräusch gibt es eigentlich nur zwei Arzneien, die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte immer wieder empfehlen: das pflanzliche, vermeintlich durchblutungsfördernde Ginkgo oder Kortison.
Ginkgo – hier unser ausführlicher Ratgeber dazu – hat sich bei Tinnitus in großen wissenschaftlichen Studien als wirkungslos erwiesen. Die Einnahme ist daher leider nur eine Scheinbehandlung. Wie sieht es aber mit Kortison aus, das ja bei vielen Erkrankungen erfolgreich eingesetzt wird?
Kortison wird zur Tinnitus-Behandlung entweder in Form von Tabletten oder Infusionen verabreicht (und so über den Blutkreislauf im ganzen Körper verteilt), oder es wird direkt durch das Trommelfell ins Mittelohr gespritzt.
Gerade die Behandlung mit Infusionen oder Spritzen ist in Deutschland eine bei HNO-Ärzten flächendeckend beliebte, sogenannte Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL). Das heißt, es handelt sich um eine Privatbehandlung für Selbstzahler. Die gesetzliche Krankenversicherung kommen dafür nicht auf, worauf der Arzt auch hinweisen muss.
Würde man damit das störende Ohrgeräusch los, wäre das Geld natürlich bestens angelegt. Sehen wir uns also einmal an, warum Kortison bei Ohrgeräuschen überhaupt in Frage kommt.
Was ist Kortison überhaupt?
Kortison – manchmal auch „Cortison“ geschrieben – ist ein Botenstoff (Hormon), der natürlicherweise im menschlichen Körper vorkommt, und zwar als Vorstufe des sogenannten „Stresshormons“ Cortisol.
Ebenso wie Cortisol ist auch das Kortison ein wahrer Tausendsassa, der für uns viele lebenswichtige Aufgaben erfüllt. Zum Beispiel mobilisiert es Energiereserven, steuert die Herz-Kreislauffunktion, verlangsamt die Zellteilung – und: Es unterdrückt entzündliche, allergische und )immunologische Prozesse.
Entdeckt wurde Kortison 1936. Ende der 40er Jahre gelang damit eine medizinische Sensation, als schwer Rheuma-Kranke nach Kortison-Spritzen – für eine Weile – schmerzfrei wurden. Prompt gab es dafür 1950 den Nobelpreis für Medizin, und der Stoff war in aller Munde.
Seitdem spielt Kortison eine sehr bedeutende Rolle in der Therapie von vielen entzündlichen, autoimmunen und allergischen Erkrankungen, z.B. bei Neurodermitis oder Asthma.
Zur Anwendung kommen in der Medizin neben dem eigentlichen Kortison auch Hydrocortison (= Cortisol) sowie die fast „baugleichen“, wirkungsgleichen Stoffe Prednisolon, Prednison, Methylprednisolon oder Dexamethason. Sie alle werden heute synthetisch hergestellt und gehören zur Arzneifamilie der sogenannten Glukokortikoide.
Umgangssprachlich allerdings firmieren all diese Mittel als „Kortison“. Und auch Ärzte sprechen gegenüber Patienten meist nur von „Kortison“, auch wenn sie einen der verwandten Stoffe nutzen.
Entscheidend für uns ist, dass Kortison in der Medizin letztlich nur aus einem Grund eingesetzt wird: Weil es Entzündungen, allergische Reaktionen und schädliche Immun- bzw. Autoimmunreaktionen hemmt. (Weil entzündetes Gewebe anschwillt, wirkt Kortison auch abschwellend.)
Wann wirkt Kortison bei Tinnitus?
Die große Frage ist nun: Kann Kortison auch bei Ohrgeräuschen helfen? Vor allem: Wie sieht es in Ihrem Fall aus?
Dies hängt schlicht und einfach davon ab, ob das Ohrgeräusch bei Ihnen auf eine Ursache zurückgeht, die durch Kortison beseitigt oder abgeschwächt werden könnte. Ganz konkret bedeutet das:
Für eine positive Wirkung von Kortison bei Ihrem Tinnitus müsste
- der Tinnitus durch eine akute Hörstörung bzw. -schädigung verursacht worden sein, die sich
- aus einer Entzündung (bzw. Immun- oder allergischen Reaktion) – im Ohr – speist und die
- aktuell noch andauert.
Nur wenn alle drei Bedingungen bei Ihnen erfüllt sind, könnte eine Gabe von Kortison und Co. einen Effekt erzielen. Andernfalls wäre die Behandlung mit Infusionen, Spritzen oder Tabletten von Vornherein vollkommen sinnlos.
Fragen Sie also Ihren HNO-Arzt ruhig einmal, welchen Grund er hat anzunehmen, dass die Bedingungen für den Einsatz von Kortison bei Ihnen vorliegen. Fragen Sie ganz konkret: „Was deutet nach Ihrer Diagnose darauf hin, dass bei mir eine Entzündung im Ohr oder eine andere ‚Indikation‘ (= Einsatzgrund) für Kortison vorliegt?“
Der Arzt könnte zum Beispiel Anzeichen einer (meist bakteriellen) Mittelohrentzündung erkannt haben. Zusätzlich zu Antibiotika kann dann auch Kortison zum Einsatz kommen. In den meisten Fällen wird der Arzt jedoch auf Ihre Frage eher mit der Schulter zucken, da er keine Hinweise auf einen solchen Einsatzgrund hat.
Benutzen Sie diesen allgemeinen Ratgeber-Artikel bitte nicht zur Selbstdiagnose. Wichtig ist immer eine gründliche fachärztliche Diagnostik, die Ihren persönlichen Fall untersucht.
Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass das Ohr aufgrund seiner Anatomie nur schwer zu untersuchen ist. Gerade das Innenohr, in dem das eigentliche Hörsinnesorgan – die empfindliche „Hörschnecke“ – liegt, ist selbst für den Facharzt letztlich eine „Blackbox“. Es entzieht sich im Grunde jeglicher direkter Untersuchung.
Vor diesem Hintergrund könnten Sie einer Kortisontherapie natürlich nach dem Motto zustimmen: „Versuchen wir es einfach mal – auf gut Glück.“ Dies wäre natürlich absolut legitim.
Was aber sagen unabhängige Experten und Wissenschaftler zu der Behandlung? Und:
Gibt es eine offizielle Empfehlung?
Häufig wird von Ärzten behauptet, eine Kortisonbehandlung bei akutem Tinnitus werde in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (DGHNO) empfohlen.
Das ist allerdings so nicht richtig.
Tatsächlich existiert erstaunlicherweise seitens der DGHNO überhaupt keine Leitlinie zum akuten Tinnitus.
Nur zum „chronischen“ (seit mehr als drei Monaten bestehenden) Tinnitus gibt es eine solche Leitlinie, die eine unverbindliche Handlungsempfehlung für Ärzte darstellt. Dort aber wird Kortison ausdrücklich nicht empfohlen, weil diverse wissenschaftliche Studien gezeigt haben, dass es bei lange andauernden Ohrgeräuschen keine Wirkung hat.
Der Ansatz, Kortison bei einem akutem Tinnitus einzusetzen, folgt vielmehr aus der Leitlinie zum Hörsturz. Das ist ein plötzlicher Hörverlust, der wiederum meist ein Ohrgeräusch auslöst.
Gegen diesen „Ohrinfarkt“ wird hochdosiertes Kortison – trotz einer sehr unklaren Studienlage – als Mittel der Wahl empfohlen. Dagegen wird der akute Tinnitus selbst – immerhin eines der häufigsten HNO-medizinischen Störungsbilder – in den Leitlinien ausgespart.
Diese gewaltige Lücke verleitet HNO-Ärzte nun dazu anzunehmen, praktisch jeder akute Tinnitus möge wie ein Hörsturz behandelt werden – auch wenn gar kein Hörsturz oder irgendeine andere akute Hörminderung vorliegt.
Diese Schlussfolgerung allerdings ist – gelinde gesagt – gewagt. Man könnte auch sagen: unwissenschaftlich und unseriös.
Viele Ursachen für Tinnitus
Schließlich gibt es bekanntermaßen sehr viele Tinnitus-Ursachen, die definitiv nicht das Geringste mit einem Hörsturz zu tun haben und bei denen auch nicht ersichtlich ist, dass sie in Zusammenhang mit einer Entzündung, Allergie oder Autoimmunreaktion stehen.
Zum Beispiel hat die neurowissenschaftliche Forschung ja längst ergeben, dass allein Stress einen Tinnitus auslösen kann, ohne dass es irgendeiner Hörstörung (geschweige denn Hörschädigung) bedarf. Auch wenn ein Ohrgeräusch etwa durch ein lautes Konzert, eine Geräuschüberempfindlichkeit oder gewöhnliche Altersschwerhörigkeit ausgelöst wird, ist fraglich, warum hier ein Einsatzgrund für Kortison angenommen werden sollte.
Umso mehr gilt das, wenn ein Tinnitus durch eine Halswirbelsäulen-Störung, Kiefergelenks-Störung („Craniomandibuläre Dysfunktion“) oder Nackenverspannungen ausgelöst wird.
Denn dort geht die Hörstörung, die sich zu einem Tinnitus aufschaukelt, gar nicht vom Ohr aus, sondern entsteht erst im Gehirn (genauer gesagt im Stammhirn, wo Störsignale anderer Nerven auf den Hörnerv „übersprechen“ können).
Um das hier einmal ganz deutlich zu sagen: In den letztgenannten drei Fällen wäre eine Kortisonspritze ins Ohr tatsächlich exakt so sinnvoll wie eine Spritze in den großen Zeh – schlicht und einfach, weil es im Ohr keinerlei schädliche Prozesse gäbe, die auf Kortison in irgendeiner Weise ansprechen könnten.
In der Praxis ist es allerdings oft – zumal für den HNO-Arzt – kaum im Detail nachzuvollziehen, wie genau ein Tinnitus entstanden ist. Zum einen, weil viele auslösende Faktoren mit den gängigen HNO-ärztlichen Instrumenten gar nicht zu untersuchen sind. Zum anderen, weil es meist mehrere Ursachen bzw. Auslöser gibt, die erst zusammen das Ohrgeräusch hervorrufen, etwa Stress und eine Mittelohrentzündung.
Ein Arzt könnte daher auch dann Kortison empfehlen, wenn die Symptome eher auf eine Tinnitus-Ursache hindeuten, die damit gar nicht behandelbar ist, nach dem Motto: „Wer weiß, womöglich ist da doch irgendetwas, das ich nicht sehen kann und das auf Kortison anspricht?“
Überhaupt: Wenn Kortison von der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde bei Hörsturz empfohlen wird, hilft es ja womöglich auch gegen Ihren Tinnitus.
Die Frage ist bloß:
Hilft Kortison überhaupt gegen Hörsturz?
Es ist nämlich äußerst umstritten, ob Kortison bei Hörsturz tatsächlich einen Effekt hat.
Auch hier fußt der Einsatz von Kortison ja auf der Annahme, dass ein Hörsturz von einer Entzündung im Innenohr verursacht worden sein könnte. Allerdings: Dies ist wirklich nur eine Annahme. Einen wissenschaftlichen Beleg gibt es dafür bis heute nicht.
Das Ganze ist durchaus brisant, denn jedes Jahr erleiden allein in Deutschland immerhin etwa 200.000 bis 300.000 Menschen einen Hörsturz. Damit zählt der Hörsturz nicht nur zu den häufigsten HNO-Erkrankungen, sondern auch zu den häufigsten Tinnitus-Ursachen.
Ein Hörsturz ist eine plötzlich auftretende Hörminderung ohne erkennbare Ursache. Der Hörverlust betrifft meist nur ein Ohr, kann aber auch beidseitig auftreten. Die Bandbreite reicht von einer leichten Schwerhörigkeit bis zu völliger Taubheit. Typische Begleiterscheinungen sind Tinnitus, Schwindel oder ein Druckgefühl im Ohr.
Für die Medizin ist der Hörsturz leider immer noch ein großes Rätsel (ganz im Gegensatz zum mittlerweile sehr gut erforschten Phänomen Tinnitus). Warum ein Hörsturz auftritt und was dabei im Ohr vorgeht, darüber tappt die Forschung bis heute völlig im Dunkeln.
Es existieren lediglich verschiedene Hypothesen, so nennt man in Wissenschaft unbewiesene Vermutungen. Zum Beispiel deutet einiges darauf hin, dass Stress eine Rolle bei der Hörsturzentstehung spielt. Gerade viele Betroffene selbst neigen zu dieser Erklärung.
Auch wird spekuliert, dass der der Hörverlust möglicherweise durch Entzündungen ausgelöst wird. Ein Beweis dafür wäre – anders als beim Faktor Stress, der für die Forschung schwer greifbar ist – eigentlich leicht zu erbringen.
Ganz einfach:
Wenn ein Hörsturz regelmäßig von Entzündungen im Ohr verursacht würde, müssten entzündungshemmende Mittel wie Kortison die Genesung beschleunigen. Allerdings: Die bisherigen wissenschaftlichen Studien konnten dies nicht bestätigen.
Was sagt die Wissenschaft?
In drei Studien wurde bislang untersucht, ob unterschiedliche Dosierungen von Kortison bei Hörsturz besser wirken als eine Scheinbehandlung mit einem Placebo-Medikament ohne Wirkstoff.
Nur in einer sehr alten Studie aus dem Jahr 1980 ergab sich eine leichte Verbesserung des Hörvermögens durch Kortison. Diese Studie gilt jedoch aufgrund der sehr geringen Teilnehmerzahl und schwerer methodischer Mängel als nicht aussagekräftig. In den beiden neueren (und größeren) Studien aus den Jahren 2001 und 2012 zeigte Kortison dagegen keine Wirkung.
In zwei großen Übersichtsarbeiten haben Wissenschaftler (unter anderem des renommierten Forschungsnetzwerks Cochrane) diese drei Einzelstudien umfassend ausgewertet.
„Die analysierten Übersichtsarbeiten kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass die bislang vorliegenden Studien keinen Effekt der Behandlung zeigen“ – so lautet das Resümee des sogenannten IGeL-Monitors der Gesetzlichen Krankenversicherung.
IGeL-Monitor warnt vor Kortisontherapie
Demnach zeigen die Auswertungen „übereinstimmend, dass eine systemische Gabe von Glukokortikoiden die Hörfähigkeit nicht schneller zurückbringt als die Gabe eines Scheinmedikaments.“
„Wir sehen insgesamt keine Hinweise auf einen Nutzen, aber Hinweise auf einen geringen Schaden.“, urteilen die Fachleute des IGeL-Monitors mit Blick auf mögliche Nebenwirkungen.
Der IGeL-Monitor bewertet die Kortisonbehandlung deshalb als „tendenziell negativ“. Und dies ist der Grund, warum die gesetzlichen Krankenkassen diese Therapie weder bei Hörsturz noch bei Tinnitus zahlen.
Die genannten Studien beziehen sich zwar nur auf die Gabe von Kortison-Tabletten und Infusionen, nicht auf entsprechende Spritzen ins Ohr. Jedoch stellt der IGeL-Monitor die Kortison-Behandlung insgesamt in Frage:
„Da die Ursachen eines Hörsturzes unbekannt sind, kann man ihn auch nicht mit einer gezielten Therapie beheben.“
Keine absolute Gewissheit
Trotz allem wäre es – auch in Bezug auf Ohrgeräusche – verfrüht, eine generelle Unwirksamkeit von Kortison festzustellen.
Die Situation ist hier nicht so eindeutig wie bei den durchblutungsfördernden Medikamenten, wo die völlige Unwirksamkeit bei Tinnitus seit Langem klar erwiesen ist.
Beim Kortison ist die Forschung noch im Fluss. So läuft bereits seit 2016 eine großangelegte Kortison-Studie des Deutschen Studienzentrums für HNO-Heilkunde. Koordiniert von der Uniklinik Halle-Wittenberg und finanziert mit zwei Millionen Euro durch das Bundesforschungsministerium prüft die sogenannte „HODOKORT“-Studie, wie wirksam hoch- und niedrigdosierte Kortikoide in der Behandlung des akutes Hörsturzes sind.
Das Ergebnis soll im Laufe des Jahres 2021 vorliegen. (Wir halten Sie hier auf dem Laufenden. Aussagekraft über die Wirksamkeit von Kortison bei einem Tinnitus, der nicht durch einen Hörsturz ausgelöst wurde, wird die Studie jedoch leider nicht haben.)
Unabhängig davon deutet eine sehr interessante US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2019 darauf hin, dass ein Hörverlust eine Entzündung von Nervengewebe („Neuroinflammation“) hervorrufen kann, was dann wiederum die Entstehung eines Tinnitus begünstigt.
Eine solche Nervenentzündung sei daher ein möglicher Ansatzpunkt für die Tinnitustherapie – das schließen die Neurowissenschaftler der University of Arizona jedenfalls aus Experimenten mit Mäusen, denen sie mit großem Lärm eine Hörschädigung beigebrachten.
Ob Kortison hier etwas ausrichten kann, ist allerdings völlig unklar. Bei anderen Erkrankungen, die mit einer Entzündung von Nervengewebe in Verbindung gebracht werden (z.B. Alzheimer oder Parkinson), wird Kortison aber häufig eingesetzt.
Zusammenfassend können wir festhalten:
Bei vielen – wohl den meisten – Tinnitus-Fällen ist eine Heilung oder deutliche Besserung durch Kortison nicht zu erwarten. In manchen Fällen könnte es aber einen Effekt haben.
Infusionen, Tabletten oder Spritzen?
Sehen wir uns daher jetzt die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten mit Kortison einmal ganz konkret an.Infusionen, Tabletten oder Spritzen – was wirkt besser?
Beziehungsweise: Gibt es überhaupt einen Unterschied, der die erheblichen Mehrkosten von Infusionen und Spritzen gegenüber den günstigen Tabletten rechtfertigt?
Ablauf und Kosten der Infusionstherapie
Bei der Infusion wird das verflüssigte Medikament direkt in eine Vene (ein zum Herzen führendes Blutgefäß) geleitet, in der Regel über den Unterarm. Das Medikament gelangt so direkt in die Blutbahn.
Typischerweise werden bei Tinnitus drei bis zehn „Kurzinfusionen“ verabreicht, jeweils mit einer Dauer von 20 bis 40 Minuten, an aufeinander folgenden Tagen. Die Infusionen können ambulant prinzipiell in jeder Arztpraxis erfolgen. Etwas unangenehm ist dabei der relativ große Venenkatheter, der in die Vene gestochen wird.
Die Kosten für eine Tinnitus-Infusionstherapie belaufen sich meist auf mehrere hundert Euro – rund 30 bis 40 Euro pro Einheit. Die genauen Kosten sind von Arzt zu Arzt unterschiedlich. Sie hängen von der Dauer der Therapie und auch vom verwendeten Medikament ab.
Eine fünftägige Infusionstherapie mit dem Kortison-Derivat Prednisolon kostet aktuell beim HNO-Arzt – inklusive des Medikaments – etwa 150 bis 200 Euro.
Viele Ärzte verabreichen auch eine Kombination von Medikamenten: ein entzündungshemmendes Glukokortikoid wie Prednisolon zusammen mit einem vermeintlich „durchblutungsfördernden“ Mittel.
In diesem Fall ist allergrößte Skepsis angebracht, auch was die grundsätzliche Kompetenz und Aufrichtigkeit des Arztes anbelangt. Denn die völlige Unwirksamkeit von durchblutungsfördernden Arzneien bei Tinnitus ist durch viele Studien seit Langem zweifelsfrei erwiesen. Der einzige Effekt, den die Beimischung eines solchen Mittels hat, ist daher, dass die Infusionstherapie für Sie noch teurer wird.
In jedem Fall gilt: Beginnen Sie eine Infusionstherapie nicht, bevor sie über die verwendeten Medikamente sowie die genauen Kosten der Behandlung aufgeklärt worden sind.
Übrigens steht es Ihnen selbstverständlich jederzeit frei, die Infusionstherapie abzubrechen. Wie viele Sitzungen Sie mit dem Arzt ursprünglich vereinbart hatten, ist unerheblich.
Warum überhaupt Infusionen?
Warum sollten Sie überhaupt auf Infusionen setzen, wenn es auch Kortison-Tabletten gibt?
Eine Kortison-Infusion wirkt auf den Laien etwas „spektakulärer“ als die Gabe des gleichen Medikaments in Tablettenform. Die Prozedur – samt Gerätschaften, medizinischem Fachpersonal und Schmerzen – wirkt sehr „klinisch“, sozusagen „amtlich medizinisch“.
Dem Laien wird damit suggeriert, dass die Infusion besser oder „intensiver“ wirkt als Tabletten mit dem gleichen Wirkstoff. Tatsächlich gibt es dafür jedoch keinen Beleg.
Bei der Infusion gelangt das Kortison lediglich schneller in die Blutbahn, während es bei Tabletten ein wenig länger dauert.
In beiden Fällen jedoch verteilt sich das Kortison (mit all seinen Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen) im gesamten Körper und in allen Organen – auf dass ein winziger Teil davon dorthin gelangt, wo er seine Wirkung entfalten soll: ins Innenohr. Wieviel des Wirkstoffs ins Innenohr gelangt, ist einzig eine Frage der Dosierung.
„Der Unterschied der beiden Verfahren besteht darin, dass die Wirkstoffe in den Tabletten über die Darmwand aufgenommen werden, während sie bei der Infusion direkt in das Blut gelangen. Entscheidend ist aber, dass die Wirkstoffe bei beiden Verfahren […] über die Blutbahn im gesamten Organismus verteilt werden“, erläutern die Experten des IGeL-Monitors und betonen: „Auch in der Praxis werden die beiden Verfahren – zumindest bei der Hörsturztherapie – als austauschbar angesehen.“
Bei anderen Erkrankungen, die standardmäßig mit hochdosiertem Kortison behandelt werden (z.B. Multiple Sklerose), ergaben Studien eindeutig, dass die Gabe von Kortison in Tablettenform genauso wirksam, sicher und verträglich ist wie Infusionen.
Ob dies auch bei Hörsturz bzw. Tinnitus gilt, prüft aktuell ebenfalls die schon erwähnte deutsche „HODOKORT“-Studie.
Einstweilen deutet aber alles darauf hin, dass HNO-Ärzte bei einem akuten Tinnitus anstelle von Kortison-Infusionen genauso gut Tabletten verschreiben könnten. Warum tun sie es dann nicht?
Die wahrscheinlichste und realistischste Erklärung ist leider banal und ziemlich ernüchternd: Wenn der Arzt Ihnen Infusionen verabreicht, verdient er daran mehrere hundert Euro, andernfalls verdient er: nichts.
Diese Praxis erinnert leider an frühere Scheinbehandlungen von Tinnitus mit den schon erwähnten „durchblutungsfördernden Mitteln“. So wurden in den 80er und 90er Jahren Hunderttausenden Tinnitus-Betroffenen durchblutungsfördernde Infusionen verabreicht – obwohl es nie irgendeinen wissenschaftlichen Beleg für deren Wirksamkeit gab.
Einige vermeintliche „Tinnitus-Spezialisten“ unter den HNO-Ärzten hatten eigens dafür große Räume eingerichtet, in denen viele Patienten gleichzeitig Infusionen erhielten.
Erst als immer mehr große Studien die völlige Unwirksamkeit von durchblutungsfördernden Mitteln bei Tinnitus bewiesen, gaben die meisten Ärzte dieses Geschäft wieder auf.
Besser Kortison-Spritzen ins Ohr?
Doch zurück zum Kortison. Als Alternative bleibt hier ja noch, den Wirkstoff lokal durch das Trommelfell ins Mittelohr gespritzt zu bekommen („intratympanale Kortikoidtherapie“). Dabei kommt häufig das Kortison-Derivat Dexamethason zur Anwendung.
Dies hat natürlich den Vorteil, dass das Kortison hauptsächlich da „wirkt“, wo es auch wirken soll: im Ohr. Unerwünschte Nebenwirkungen an anderen Organen werden auf diese Weise weitgehend unterbunden, was z.B. für Diabetiker sehr wichtig ist (s.u.)
Gemäß der besagten Hörsturz-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde ist die Spritzenbehandlung als „Reservetherapie“ zu erwägen, wenn Infusionen oder Tabletten zuvor erfolglos blieben. Ob die Kortison-Spritzen allerdings tatsächlich besser wirken bzw. ob sie überhaupt wirken, ist bislang nicht erwiesen.
Der Ablauf der Behandlung sieht so aus: Betroffene erhalten in der Regel drei bis fünf Spritzen innerhalb von ein bis zwei Wochen. Dabei wird zunächst das schmerzempfindliche Trommelfell lokal betäubt. Das Setzen der Kortison-Spritze direkt ins Mittelohr („intratympanal“) tut dann nicht mehr weh. Danach muss das Medikament rund 20 Minuten lang einwirken, was für gewöhnlich im Liegen geschieht.
Die Kosten der Tinnitus-Therapie mit Kortison-Spritzen liegen ähnlich wie bei der Infusionsbehandlung:
Eine Spritze schlägt mit rund 30 bis 60 Euro zu Buche, eine fünfmalige Behandlung also mit 150 bis 300 Euro. Auch hier handelt es sich um eine Privatzahlerleistung, die von den gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommen wird.
Nebenwirkungen von Kortison
Abschließend sei noch die Frage geklärt, ob Kortison bei Tinnitus möglicherweise sogar gefährlich oder schädlich sein könnte. Seit jeher wird Kortison ja wegen seiner vielfältigen unerwünschten Wirkungen skeptisch beäugt.
Grundsätzlich gilt:
Je länger der Stoff verabreicht wird und je höher die Dosis ausfällt, desto eher kommt es zu Nebenwirkungen.
Dazu zählen insbesondere erhöhte Blutzuckerwerte (wichtig für Diabetiker), ein erhöhter Blutdruck, Muskelschwäche, Gemütsschwankungen, Zyklusstörungen, Schlafstörungen, Gastritis (Magenschleinhautentzündung) und ein erhöhtes Infektionsrisiko, bei längerer Anwendung gar ein Abbau von Knochensubstanz bis hin zur Osteoporose, Gewichtszunahme, das sogenannte „Vollmondgesicht“ oder Augenerkrankungen wie grauer und grüner Star.
Derlei drastische Folgen treten aber für gewöhnlich erst nach längerer Anwendung auf.
Bei der Kurzzeittherapie des akuten Tinnitus bzw. Hörsturzes sind schwere Nebenwirkungen nicht zu erwarten (wenn auch nicht mit Sicherheit auszuschließen).
Da das Kortison im Fall von Spritzen hauptsächlich lokal wirkt, sind hier auch die Nebenwirkungen lokaler Natur: Möglich sind etwa Schmerzen, ein vorübergehender Schwindel, Trommelfellperforationen oder eine Mittelohrentzündung.
Ein verantwortlicher Arzt fragt Sie vor einer Kortisonbehandlung immer nach Vorerkrankungen. Sollte Ihr Arzt dies unterlassen, informieren Sie ihn von sich aus z.B. über eine Diabetes.
Weil die Nebennieren die Eigenproduktion von Cortisol während einer Kortisontherapie herunterfahren, sollten Sie zudem ggf. andere behandelnde Ärzte über die Therapie unterrichten.
Unser Fazit
Was bedeutet all dies nun für Sie, wenn Sie nun aktuell einen Tinnitus haben und eine Kortisontherapie erwägen?
Zunächst einmal ist festzustellen, dass es völlig unangebracht wäre, Kortison generell zu verteufeln. Durch seine breite und rasche Wirkung ist es in der Medizin in vielen kritischen Situationen das Mittel der Wahl, immer wieder auch lebensrettend. Und vielen Betroffenen schlimmer chronischer Krankheiten verhilft der Stoff fraglos zu einer deutlich höheren Lebensqualität.
Fraglich ist allerdings, ob der Wirkstoff auch bei einem akuten Tinnitus eine Wirkung zeigt.
Prinzipiell möglich wäre dies nur, wenn der Tinnitus durch eine Entzündung (bzw. durch eine allergische Reaktion oder Immunreaktion) ausgelöst wurde, die noch immer andauert und den Tinnitus aufrechterhält. Diese könnte dann durch Kortison abgeschwächt werden.
Es ist allerdings völlig unklar, ob dies überhaupt in nennenswertem Umfang der Fall ist. Bei der großen Mehrheit der Tinnitus-Fälle ist jedenfalls nicht davon auszugehen.
Insofern verwundert es nicht, dass die Kortisontherapie erfahrungsgemäß meist nicht die erhoffte Besserung bringt.
Das schließt allerdings nicht aus, dass sie im Einzelfall, womöglich auch bei Ihnen, Erfolg haben mag.
Die Entscheidung, ob Kortison gegen Ihre Ohrgeräusche eingesetzt werden sollte, hängt letztlich immer von der konkreten ärztlichen Diagnose ab. Daher nochmals der Hinweis: Nutzen Sie diesen allgemeinen Ratgeber-Artikel bitte nicht zur Selbstdiagnose, sondern besprechen Sie das Vorgehen – nach gründlicher Untersuchung – mit Ihrem HNO-Arzt.
Am Ende liegt die Entscheidung bei Ihnen.
Ein Argument für die Kortisonbehandlung wäre sicherlich, dass Sie sich dann später einmal nicht sagen brauchen: „Hätte ich es mal versucht!“ Ich verstehe jede*n Tinnitus-Betroffene*n, der*die aus diesem Motiv heraus eine Kortisonbehandlung eingeht.
Wenn der Tinnitus im Zuge eines Hörsturzes aufgekommen ist, würden Sie mit der Behandlung zumindest der – wenn auch umstrittenen – Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde folgen.
Falls das Ohrgeräusch jedoch zum Beispiel allein durch Stress, eine Halswirbelsäulen- oder Kiefergelenksstörung oder Alterschwerhörigkeit ausgelöst wurde, dann wäre eine Kortisonbehandlung sinnlos und könnte nicht mehr bewirken als Schokolade.
Kein Zweifel besteht daran, dass eine Kortisonbehandlung, wenn überhaupt, nur in den ersten Tagen und Wochen nach Aufkommen des Ohrgeräusches sinnvoll ist.
Ein Arzt, der Ihnen noch mehr als zwei oder drei Monaten Infusionen oder Spritzen anbietet, hätte eher Ihr Geld im Blick als Ihre Gesundheit. (Es sei denn, es bestünde ein konkreter Hinweis auf eine Entzündung oder einen anderen Einsatzgrund für Kortison.)
In jedem Fall gilt: Kortison kann bestenfalls auf die Ursache bzw. den Auslöser des Tinnitus einwirken. Dies aber auch nur, solange diese Ursache bzw. dieser Auslöser noch andauern.
Direkt gegen das Phantomgeräusch selbst, das ja im Hörzentrum des Gehirns „funkt“ und sich schnell verselbständigen kann, wirkt Kortison nicht.
Und auch gegen das Tinnitus-Leiden, das schließlich bei länger andauernden Ohrgeräuschen das eigentliche Problem darstellt, vermag Kortison nichts auszurichten.
Systematisch genesen
Für den Fall, dass der Tinnitus bei Ihnen trotz Kortison-Behandlung bestehen bleibt (oder falls er Sie aktuell bereits seit längerer Zeit stört), sei Ihnen Das Große Tinnitus-Heilbuch ans Herz gelegt.
Auf dem neuesten Stand von Forschung und Therapie bündelt dieses Buch die erwiesenermaßen wirksamsten Heilungsstrategien zu einem optimalen Selbsthilfeprogramm.
Mit den besten Wünschen
JS
QUELLEN (Auswahl)
- MMW – Fortschritte der Medizin, Ausgabe 154, Seite 42 (2012): Wirken Kortikosteroide beim akuten Hörsturz?
- R. Nosrati-Zarenoe, E. Hultcrantz: Corticosteroid treatment of idiopathic sudden sensorineural hearing loss: randomized tripleblind placebo-controlled trial. Otology & Neurotology 2012; 33: 523–531
- Cinamon, U., Bendet, E. & Kronenberg, J.: Steroids, carbogen or placebo for sudden hearing loss: a prospective double-blind study. European Archives of Oto-Rhino-Laryngology 258, 477–480 (2001).
- William R. Wilson, MD; Frederick M. Byl, MD; Nan Laird, PhD: The Efficacy of Steroids in the Treatment of Idiopathic Sudden Hearing Loss. A Double-blind Clinical Study. Arch Otolaryngol. 1980; 106 (12): 772-776.
- Le Page E, Veillard D, Laplaud DA et al.: Oral versus intravenous high-dose methylprednisolone for treatment of relapses in patients with multiple sclerosis. A randomised, controlled, double-blind, non-inferiority trial. Lancet 2015
- Limmroth, V.: Kortison oral und intravenös gleich wirksam. InFo Neurologie 17, 11 (2015).
- IGeL-Monitor: Glukokortikoide beim Hörsturz. Können Kortison und andere Glukokortikoide Hörsturzbeschwerden lindern?
- IGeL-Monitor: Evidenzsynthese – Glukokortikoide beim Hörsturz. (PDF)
- IGeL-Monitor: Ergebnisbericht – Glukokortikoide beim Hörsturz. (PDF)
- Kortison-Studie des Deutschen Studienzentrums für HNO-Heilkunde: https://hodokort-studie.hno.org/
- Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie: S3-Leitlinie 017/064: Chronischer Tinnitus. 02/2015
- Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie: S1-Leitlinie 017/010: Hörsturz (Akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust). 01/2014
- Wang W, Zhang LS, Zinsmaier AK, Patterson G, Leptich EJ, Shoemaker SL, Yatskievych TA, Gibboni R, Pace E, Luo H, Zhang J, Yang S, Bao S.: Neuroinflammation mediates noise-induced synaptic imbalance and tinnitus in rodent models. In: PLoS Biology, June 2019
- Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie: Therapie mit Glukokortikoiden.
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