Viele Betroffene von Ohrgeräuschen berichten von Beschwerden wie Druck, Kribbeln oder Schmerzen im Ohr. Jedoch findet sich dafür beim HNO-Arzt häufig keine körperliche Ursache wie etwa eine Entzündung oder Tubenbelüftungsstörung. Wir erklären Ihnen, welche einfachen Gründe es für solche Empfindungen gibt – damit Sie sich nicht weiter sorgen brauchen.
Gründe für Empfindungen jenseits des Tinnitus
Rauschen, Pfeifen, Piepen, Sausen, Klingeln, Brummen, Summen oder Zischen: Stellt sich ein Ohrgeräusch ein, ist das für die meisten Betroffenen zunächst beunruhigend genug. Ein ständige Hörwahrnehmung „im Ohr“ oder „im Kopf“, die nicht auf eine äußere Schallquelle zurückgeht – das kann sich erst einmal ziemlich unheimlich anfühlen.
Erst Recht, wenn ärztliche Untersuchungen keine klare, behandelbare Ursache für das Ohrgeräusch liefern oder erste Behandlungsversuche (z.B. mit Kortison oder Ginkgo) nicht erfolgreich sind.
Besonders frustrierend ist für viele Betroffene das Gefühl, dass da irgendetwas mit dem Ohr nicht in Ordnung ist, was der Arzt aber nicht sieht oder erklären kann. Denn häufig ist ein Tinnitus von weiteren Ohr-Beschwerden begleitet:
- Druck auf dem Ohr
- Füllegefühl im Ohr
- Schmerzen im Ohr
- Ziehen im Ohr
- Kribbeln im Ohr
- Taubheit im Ohr
Diese Empfindungen können auch beim „chronischen“ (seit Längerem bestehenden) Tinnitus auftreten. Besonders häufig kommen Sie aber in den ersten Wochen und Monaten nach dem Aufkommen des Ohrgeräusches vor.
Ist es eine Entzündung?
Damit geht in der Regel die Vermutung einher, dass zum Beispiel eine Infektion (z.B. Mittelohrentzündung) im Ohr schwelt, die den Tinnitus verursacht hat und möglicherweise noch aufrechterhält – und deshalb unbedingt schnell behandelt werden müsste.
In einem großen Teil dieser Fälle gibt es jedoch auch bei noch so gründlicher HNO-ärztlicher Abklärung keinen „organischen Befund„.
Das heißt: Der HNO-Arzt kann – mit seinen Instrumenten – keine körperliche Ursache für ein Druckgefühl, Ohrenschmerzen o.Ä. finden, zum Beispiel keine Anzeichen für die vermutete Infektion.
Verständlicherweise führt das bei vielen Betroffenen zu Unsicherheit, diffusen Ängsten, Unmut oder Ohnmacht, oft über Wochen oder Monate hinweg.
Viele Betroffene fühlen sich nicht ernst genommen, zweifeln an der Kompetenz ihres Arztes oder verlieren gar völlig den Glauben an die Medizin, wenn auch weitere ärztliche Abklärungen ohne Befund bleiben.
Keine Einbildung, kein Rätsel
Was SIE in jedem Fall wissen sollten:
- Vielen anderen Menschen mit Tinnitus geht es ebenso. Empfindungen wie Druck, Schmerz oder Kribbeln im Ohr sind als körperliche Begleiterscheinungen eines Tinnitus ein bekanntes, weit verbreitetes Phänomen.
- Auch wenn es keine offensichtliche körperliche Ursache gibt, sind Symptome wie ein Druckgefühl oder Ohrenschmerzen nie „eingebildet“! Es handelt sich um ein ganz reales Erleben.
- Es gibt – durch aktuelle Forschung gestützt – gute psychosomatische und neurophysiologische Erklärungen für solche Empfindungen. Nur weil es in der HNO-ärztlichen Diagnose keinen Befund gibt, heißt das nicht, dass diese Ohr-Beschwerden rätselhaft sind.
- Zudem könnte es sehr wohl eine organische Ursache geben, die bloß HNO-medizinisch nicht erfasst wird. Denn auch Störungen des Bewegungsapparates (Kiefer, Halswirbelsäule, Nackenmuskulatur) können Druck, Schmerzen oder Kribbeln im Ohr verursachen. Dazu unten mehr.
Psychosomatische Ursachen
Ganz klar: Wenn Sie anhaltende Beschwerden wie ein Druckgefühl, Schmerz oder Kribbeln im Ohr haben, sollten Sie dies in jedem Fall ärztlich abklären lassen. Es ist auch legitim (und manchmal absolut sinnvoll), eine Zweitmeinung einzuholen, wenn man glaubt, nicht gründlich genug untersucht worden zu sein.
Wenn sich aber letztlich keine Anhaltspunkte für eine organische Ursache ergeben, ist die Ursache höchstwahrscheinlich anderer Natur.
Mindestens eine der folgenden psychosomatischen bzw. neurophysiologischen Erklärungen könnte dann bei Ihnen zutreffen.
Gemeinsam haben diese wissenschaftlich fundierten Erklärungsansätze, dass Stress bzw. Angst eine übermäßige Empfindlichkeit für Sinneswahrnehmungen bewirkt – was dann zu ganz realen Beschwerden führen kann.
Unter Tinnitus-Betroffenen sind diese Phänomene bislang kaum bekannt, obwohl diese auch bei der Entstehung und/oder Aufrechterhaltung von Ohrgeräuschen eine ganz entscheidende Rolle spielen. Unsere Erläuterungen könnten daher für Sie doppelt aufschlussreich sein.
1. Stress und Angst
Wer ein anhaltendes Ohrgeräusch – zunächst einmal – als lästig und störend, beunruhigend und gar beängstigend empfindet, reagiert darauf mit einem körperlichen und psychischen „Alarm“. Das reicht von Anspannung und innerer Unruhe über belastende Gefühle bis hin zu allerhand negativen Gedanken und Sorgen.
Diese akute Stressreaktion auf den Tinnitus kann dazu führen, dass man überempfindlich auf sämtliche Empfindungen in den Ohren reagiert und diese stärker wahrnimmt.
Anders gesagt: Stress und Angst können die Wahrnehmungsschwelle für Schmerzen und andere körperliche Empfindungen herabsetzen, also empfänglicher für derartige Wahrnehmungen machen.
Eine derart gesteigertes, stressbedingtes Schmerzempfinden ist ein bekanntes Phänomen, das in vielen Zusammenhängen beobachtet wird. Zum Beispiel sind stark belastete Menschen tendenziell anfälliger für Kopfschmerzen und nehmen Muskelschmerzen stärker wahr.
Zusätzlich zur unmittelbaren Alarmreaktion auf das Ohrgeräusch können auch andere berufliche, private oder seelische Belastungen den Stresspegel steigern – und die Empfindlichkeit heraufschrauben.
Überhaupt können Stress und Angst vielfältige körperliche Symptome verursachen. Typisch sind z.B. erhöhte Muskelspannung, erhöhter Blutdruck, Herzrasen, Kloßgefühl im Hals, Atemnot, Schweißausbrüche, Zittern, Übelkeit, Verdauungsbeschwerden, Engegefühl in der Brust oder ein Druckgefühl im Kopf.
2. Überempfindlichkeit
Bedingt durch akuten Stress oder Angst kann das Gehirn in einen Zustand gesteigerter Wachsamkeit oder Sensitivität („Hypervigilanz“) wechseln. Das Gehirn reagiert dann überempfindlich auf körperliche Reize und Sinnesinformationen, einschließlich des Hörens.
Dies führt typischerweise dazu, dass man den Tinnitus deutlich lauter und störender wahrnimmt als in einem weniger gestressten (= entspannteren) Zustand.
Weil Betroffene den Tinnitus bzw. dessen Ursache zunächst meist im Ohr vermuten (während das Geräusch in Wirklichkeit immer im Hörzentrum des Gehirns erzeugt wird), werden sie „überaufmerksam“ für die Ohren – und für kleinste Veränderungen oder Empfindungen in diesem Bereich.
Dieser übermäßige Fokus auf die Ohren kann – insbesondere wenn er mit Angst oder Sorge verbunden ist – dazu führen, dass man über den Tinnitus hinaus zusätzliche Symptome wahrnimmt.
So verspürt man möglicherweise ungewöhnliche oder störende Empfindungen wie Druck auf dem Ohr oder Ohrenschmerzen, die man im „Normalzustand“ gar nicht bemerkt hätte.
Zugleich neigt man im Zustand der Hypervigilanz eher dazu, solche Empfindungen als bedrohlich zu interpretieren – was die Angst noch vergrößert. Dann entsteht schnell eine Spirale von Stress/Angst, erhöhter Aufmerksamkeit und Überempfindlichkeit, wodurch selbst schwächste Körperwahrnehmungen deutlich verstärkt und aufrechterhalten werden können.
Ganz ähnlich, wie es auch beim Tinnitus geschieht.
Übrigens sind in der psychosomatischen Medizin eine Reihe sogenannter „Überempfindlichkeits-Syndrome“ bekannt. Dabei reagieren Menschen ungewöhnlich stark auf Reize, die sie normalerweise gar nicht bemerken oder nicht als unangenehm wahrnehmen würden.
Beispiele sind das Reizdarmsyndrom, bei dem der Darm offenbar überempfindlich auf normale Verdauungsprozesse reagiert, oder der psychogene Husten, der durch überempfindliche Hustenrezeptoren im Rachen verursacht wird. Auch hier gelten Stress/Angst, gepaart mit übermäßiger Aufmerksamkeit, als wesentliche Ursache und zugleich Verstärker dieser Beschwerden.
3. Zentrale Verstärkung
Als Hauptursache für Tinnitus gelten Hörstörungen, vor allem aufgrund einer Schädigung oder Beeinträchtigung der empfindlichen Haarzellen im Innenohr. Gründe dafür sind z.B. Altersschwerhörigkeit, Lärm, ototoxische (für das Ohr giftige) Medikamente, Hörsturz, Infektionen und andere Erkrankungen.
Wenn nun Sinneszellen im Innenohr geschädigt sind, werden weniger Nervenimpulse vom Innenohr in das Hörsystem des Gehirns eingespeist.
Paradoxerweise führt genau dies jedoch in den weiteren Instanzen der Hörbahn zu einem messbaren Anstieg der Nervenaktivität! Der Grund: Das Hörsystem versucht, den verminderten Input aus dem Ohr auszugleichen.
Unser Gehirn hat nämlich die erstaunliche Fähigkeit, Hörsignale zu „modulieren“: Es kann die Intensität ihrer Wahrnehmung verstärken oder abschwächen.
Dieses Phänomen wird auch „zentrale Verstärkung“ („central gain enhancement“) genannt und gilt heute als wesentlicher Mechanismus bei der Entstehung von Tinnitus und Hyperakusis (Geräuschüberempfindlichkeit).
Denn wenn ausbleibende oder gestörte Hörsignale aus dem Ohr komplexe Ausgleichsvorgänge in Gang setzen, werden nicht nur „echte“ Hörwahrnehmungen verstärkt. Auch ganz gewöhnliche Fluktuationen aus dem „Grundrauschen“ des Hörsystems können dabei so weit verstärkt werden, dass sie als „Phantomgeräusch“ hörbar werden: Tinnitus.
Das Ohrgeräusch entsteht dann sozusagen als „Unfall“ im Zuge eines eigentlich nützlichen Mechanismus.
Durch die „zentrale Verstärkung“ kann allerdings auch die Empfindlichkeit für andere Arten von Nervensignalen aus dem Ohr deutlich erhöht werden.
Und so kann es passieren, dass – über den Tinnitus hinaus – noch andere „falsche“ Signale erzeugt werden: „Phantomempfindungen“, die man als Druck, Schmerzen oder Kribbeln wahrnimmt.
Das Phänomen der „zentralen Verstärkung“ kann selbst bei Menschen mit gutem Hörvermögen Tinnitus und andere Empfindungen verursachen. Denn wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass auch die meisten Tinnitus-Betroffenen mit scheinbar „normalem“ Audiogramm gewisse Hörstörungen aufweisen.
Das „gute“ Audiogramm ist dann möglicherweise das Ergebnis der „zentralen Verstärkung“, mit der das Hörsystem eine leichte Hörbeeinträchtigung kompensiert. Oder aber die Hörminderungen liegen in Frequenzbereichen, die von den wenigen isolierten Messpunkten des Hörtests gar nicht erfasst werden.
Stress verstärkt
Ein wichtiger Aspekt fehlt aber noch: Die „zentrale Verstärkung“ hat auch eine erhebliche psychosomatische Komponente! Denn sie wird nicht nur durch Hörstörungen beeinflusst, sondern auch ganz wesentlich durch Stress und Angst.
Denn wenn unser Nervensystem in den Stress-Modus schaltet und dadurch den Körper – wie im Angesicht einer Gefahr – leistungsbereit macht, steigt geradezu automatisch auch die Verstärkung im Hörsystem. Die Faustformel lautet: Je höher der Stresspegel, desto größter die Verstärkung – und damit das Tinnitus-Risiko.
In diesem Fall zielt die Verstärkung eigentlich darauf ab, uns „hellhöriger“ für äußeren Schall zu machen. Leider wird dadurch aber auch der intern erzeugte Tinnitus verstärkt.
Stress ist daher nicht nur – neben Hörstörungen – eine der wichtigsten Tinnitus-Ursachen, sondern trägt auch ganz wesentlich dazu bei, dass sich ein Tinnitus verfestigt und zum Problem wird.
4. „Somatisierung“
In der Medizin und Psychotherapie sind seit Langem eine ganze Reihe sogenannter „Somatisierungsstörungen“ bekannt. Dabei manifestieren sich emotionale Belastungen oder ungelöste seelische Konflikte in körperlichen Symptomen wie z.B. Schmerzen in bestimmten Organen – ohne dass sich dafür irgendeine körperliche Ursache findet.
Dieses Konzept der „Somatisierung“ (körperlicher Ausdruck eines psychischen Leidens) könnte auch auf einige Tinnitus-Patienten anwendbar sein, die Schmerzen, Druck oder Kribbeln im Ohr ohne organischen Befund erleben.
Mechanismen, die dafür sprechen, wären etwa eine erhöhte Aufmerksamkeit für körperliche Empfindungen (bekannt als „Somatisierungsfokus“) oder eine veränderte Schmerzverarbeitung durch psychischen Stress.
Warum in der Akutphase?
Tinnitus-Betroffene schildern Druck, Schmerzen oder Kribbeln im Ohr überwiegend in den ersten Wochen und Monaten nach Aufkommen eines Tinnitus. Die Beschwerden fallen also meistens mit der sogenannten Akutphase zusammen.
Dies sind die Gründe:
- Akute Reaktion: Die Alarmreaktion auf den Tinnitus – und damit die Überempfindlichkeit für zusätzliche Symptome – ist in den meisten Fällen in den ersten Wochen und Monaten besonders groß.
- Hypervigilanz: Auch der Zustand übermäßiger Wachsamkeit und Aufmerksamkeit – insb. für Empfindungen in den Ohren – ist in der Regel in den ersten Wochen und Monaten besonders ausgeprägt.
- Anpassungsprozess: Die meisten Menschen lernen allmählich, mit dem Tinnitus zu leben. Das Gehirn gewöhnt sich an das Geräusch („Habituation“) und rückt es immer weiter in den Hintergrund. Die Stressreaktion – also die Tinnitus-Belastung – lässt deutlich nach oder löst sich gar ganz auf. Auch die übermäßige Empfindlichkeit und Aufmerksamkeit für zusätzliche Empfindungen in den Ohren schwindet.
- Ausheilen: Sofern Tinnitus-Begleiterscheinungen wie Druck oder Schmerz im Ohr eine organische Ursache (z.B. Infektion) hatten, verschwinden mit dem Ausheilen dieser Ursache auch die Symptome.
Somatosensorische Ursachen
Dass Störungen von Halswirbelsäule (HWS), Nackenmuskulatur und Kiefer Ohrgeräusche auslösen können, ist seit Langem wissenschaftlich erwiesen. Zudem beobachten die meisten Tinnitus-Betroffenen, dass sie das Geräusch mit bestimmten Kopf- oder Kieferbewegungen (kurzzeitig) lauter oder leiser machen können.
In solchen Fällen, in denen ein Ohrgeräusch mutmaßlich durch den Bewegungsapparat (mit) verursacht wurde oder beeinflussbar ist, spricht man auch von einem somatosensorischen Tinnitus (hier unser Ratgeber dazu).
Wenig bekannt ist, dass Halswirbelsäule, Nacken und Kiefer auch Symptome verursachen können, die als Schmerzen, Druck oder Kribbeln im Ohr wahrgenommen werden. Und zwar über Mechanismen, die sich auf die Nervenverbindungen zwischen diesen Strukturen und dem Gehirn bzw. Hörsystem beziehen:
1. Störungen der Halswirbelsäule
Fehlfunktionen der HWS können nicht nur Tinnitus, sondern auch Empfindungen wie Druck auf dem Ohr oder Ohrenschmerzen verursachen. Das liegt daran, dass die Nerven, die die HWS versorgen, in Verbindung mit den Nerven stehen, die sensorische Information vom Ohr zum Gehirn übertragen.
Bei einer Störung dieser Verbindung kann es zu abnormalen oder verstärkten Empfindungen kommen, die als Ohrendruck oder -schmerz wahrgenommen werden.
2. Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
Mit diesem Überbegriff werden verschiedene Fehlfunktionen des Kiefergelenks (ggf. im Zusammenspiel mit Kaumuskulatur und Zähnen) bezeichnet. Störungen oder Schäden an diesem Gelenk können nicht nur Ohrgeräusche, sondern auch Ohrenschmerzen oder ein Druckgefühl im Ohr verursachen.
Dies liegt daran, dass die Nerven, die das Kiefergelenk versorgen, eng mit den Nerven verbunden sind, die das Ohr versorgen. Probleme mit dem Kiefergelenk können daher die Wahrnehmung von Empfindungen im Ohr beeinflussen. Zudem können starke Verspannungen der Kaumuskulatur Druck auf die Ohren erzeugen.
3. Nackenverspannungen
Verspannungen der Nackenmuskulatur können ebenfalls neben Tinnitus Empfindungen wie Druck, Schmerzen oder Kribbeln im Ohr verursachen.
Die Muskeln im Nackenbereich sind eng mit den Nervenbahnen verbunden, die Informationen von den Ohren zum Gehirn übertragen. Wenn diese Muskeln verspannt oder verkrampft sind, kann das Druck auf die Nerven ausüben und die Informationsübertragung stören. Dies kann zu abnormalen Empfindungen im Ohr führen.
4. Schmerzübertragung
Die Nervenbahnen von HWS, Nackenmuskulatur und Kiefer sind eng mit den Nervenbahnen der Ohren verbunden.
Schmerzen und andere Empfindungen können dabei von ihrer tatsächlichen Quelle „projiziert“ oder „übertragen“ werden – ein Phänomen, das auch „übertragener Schmerz“ („referred pain“) bekannt ist.
Nach diesem Prinzip können Schmerzen, die eigentlich durch Störungen von HWS, Kiefergelenk oder Nackenmuskulatur erzeugt werden, in das Ohr „übertragen“ und dann als Ohrenschmerzen wahrgenommen werden.
5. Nervenkompression
Probleme mit der Halswirbelsäule können dazu führen, dass die Nerven, die zum Ohr führen, eingeklemmt oder komprimiert werden. Dies kann zu Empfindungen wie Kribbeln oder einem „Taubheitsgefühl“ im Ohr führen.
Einflussfaktor Psyche
Ursachen für die oben genannten Störungen gibt es viele: falsche Körperhaltung, unergonomische Sitz- oder Arbeitshaltung, körperliche Belastungen (Job, Sport, Gartenarbeit), Zahnbehandlungen, schlecht sitzender Zahnersatz, grobe Massagen u.v.m..
Ein ganz wichtiger Einflussfaktor ist auch hier wieder die psychische Belastung (Stress, Angst, Sorgen, Grübeln, ungelöste Konflikte, private oder berufliche Probleme etc.)
Denn psychischer Stress aller Art geht nicht nur mit innerer Anspannung einher, sondern auch mit körperlichen Verspannungen und Verkrampfungen – insbesondere in der Kiefer-, Hals-, Nacken-, Schulter- und Rückenmuskulatur.
In vielen Fällen waren solche Verspannungen mitsamt oben genannter Störungen schon vor dem Aufkommen des Tinnitus vorhanden (und haben diesen möglicherweise mit ausgelöst oder begünstigt).
In anderen Fällen haben sich die Verspannungen / Störungen erst infolge der großen Belastung durch das Tinnitus-Leiden entwickelt.
HNO-medizinische Ursachen
Anlass dieses Ratgeber-Artikels ist der alltägliche Fall, dass Tinnitus-Betroffene Ohrendruck, Ohrenschmerzen oder ähnliche Ohr-Beschwerden verspüren – obwohl der HNO-Arzt hierfür keine organische Ursache finden kann.
Natürlich gibt es für solche Beschwerden aber eine ganze Reihe von Ursachen, die HNO-ärztlich gut feststellbar sind. Diese Ursachen würden in der Regel bereits bei der ersten Tinnitus-bezogenen Routine-Diagnostik auffallen oder spätestens dann abgeklärt, wenn ein Patient entsprechende Symptome schildert.
Die häufigsten HNO-medizinischen Ursachen für ein Druckgefühl, Schmerzen oder Kribbeln im Ohr sind:
- Mittelohrentzündung (Otitis media): Bei dieser meist bakteriellen Infektion sammelt sich Sekret im Mittelohr, das zwischen Trommelfell und Innenohr liegt. Typische Symptome sind ein Druckgefühl, stechende oder pochende Ohrenschmerzen, eine vorübergehende Schallleitungsschwerhörigkeit sowie Fieber. Auch ein Ziehen, Kribbeln oder Taubheitsgefühl im Ohr ist häufig.
- Funktionsstörung der Eustachischen Röhre: Die Eustachische Röhre („Ohrtrompete“) verbindet das Mittelohr mit dem Nasen-Rachen-Raum und ermöglicht so einen Druckausgleich. Wenn Sie sich verengt oder verschließt, z.B. infolge einer Atemwegsinfektion oder Allergie, wird das Mittelohr nicht mehr ausreichend belüftet. Ein Gefühl von Druck oder Fülle im Ohr sowie Schmerzen sind die Folge. Eine anhaltende Funktionsstörung der Eustachischen Röhre („Tubenbelüftungsstörung“) begünstigt außerdem das Entstehen von Mittelohrentzündungen.
- Atemwegsinfekte: Erkältungen, eine Corona-Infektion oder anderen virale und bakterielle Entzündungen der oberen Atemwege lassen regelmäßig die Nase und die Eustachische Röhre anschwellen. Ergebnis: „Das Ohr geht zu“, denn der Druckausgleich funktioniert nicht mehr. Typische Erkältungssymptome wie Schnupfen, Husten, erhöhte Temperatur / Fieber, Kopf- oder Gliederschmerzen und Abgeschlagenheit sind daher häufig von Ohrendruck, Ohrenschmerzen und einer vorübergehenden Hörminderung begleitet.
- Gehörgangsentzündung (Otitis externa): Entzündungen des äußeren Gehörgangs sind i.d.R. an einem juckenden, geröteten, berührungsempfindlichen Ohr zu erkennen. Sie führen häufig zu Symptomen wie Schmerzen, Kribbeln und Druckgefühl im Ohr, teils auch zu Schmerzen beim Kauen oder Sprechen. Typische Ursachen sind eine übermäßige Reinigung mit Wattestäbchen oder ein Aufschwemmen des Gehörgangs durch langes Baden, wodurch sich Keime ausbreiten.
- Hörsturz: Gelegentlich ist Ohrendruck auch ein Vorzeichen eines bevorstehenden Hörsturzes. Dabei handelt es sich um einen plötzlichen, meist einseitigen Hörverlust, der von einer kaum merklichen Hörminderung bis hin zu Taubheit reicht und regelmäßig einen Tinnitus verursacht.
- Ohrenschmalz: Übermäßiger oder verhärteter Ohrenschmalz (in der Medizin „Zerumen“ genannt) kann den Gehörgang wie ein Pfropfen verstopfen und Druck auf das Trommelfell ausüben. Das kann zu Schmerzen und einem Gefühl von Druck auf dem Ohr führen.
- Morbus Menière: Die Menière-Erkrankung des Innenohrs führt anfallsartig zu Symptomen wie Drehschwindel, Übelkeit, Hörverlust, Tinnitus und einem Gefühl von Druck oder Fülle im Ohr.
- Barotrauma: Diese spezielle Verletzung ist durch Änderungen des Luftdrucks z.B. beim Tauchen oder Fliegen verursacht und kann zu einem Gefühl von Druck oder Schmerz im Ohr führen.
- Mastoiditis: Diese Infektion des Schläfenbeins – direkt hinter dem Ohr – kann zu starken Ohrenschmerzen führen.
Gewöhnliche Druckunterschiede
Unbedenklich und ganz normal ist ein vorübergehender Druck auf den Ohren, wie ihn wohl jeder Mensch schon beim Fliegen, Tauchen, Autofahren in die Berge oder Einfahren in einen Tunnel erlebt hat.
Grund ist ein kurzfristiger, erheblicher Druckunterschied zwischen dem Mittelohr und der Umgebung. Je nachdem, ob im Ohr ein Über- oder Unterdruck herrscht, wölbt sich das Trommelfell nach außen oder innen und kann nicht mehr frei schwingen. Man hört dann leicht gedämpft und spürt ein unangenehmes Spannungsgefühl, das sich zu Schmerzen steigern kann, wenn der Druckunterschied steigt.
Die Abhilfe ist einfach: Gähnen oder Schlucken öffnen die Ohrtrompete und forcieren den Druckausgleich im Mittelohr. Die Alternative: Tief einatmen, Nase zuhalten und mit geschlossenem Mund Luft in den Nasen-Rachen-Raum „ausatmen“.
Fazit
In jedem Fall abklären
Als Tinnitus-Betroffene:r sollten Sie anhaltende Ohr-Beschwerden wie ein Druckgefühl, Schmerzen oder Kribbeln immer fachärztlich abklären lassen.
Dieser Ratgeber-Artikel darf nicht für eine alleinige Selbstdiagnose genutzt werden! Denn eine genaue Diagnose erfordert immer spezielle Untersuchungen, um mögliche organische Ursachen auszuschließen.
Wenn es aber am Ende keine Anhaltspunkte für eine organische Ursache gibt, können Sie anhand dieses Artikels gut nachvollziehen, warum Sie trotzdem Druck, Schmerzen oder Kribbeln im Ohr verspüren.
Mehr Aufklärung bitte!
HNO-Ärzte und Hausärzte, aber auch Psychotherapeuten, Osteopathen und andere Behandler sollten Ihre Tinnitus-Patienten unbedingt über die möglichen psychosomatischen Mechanismen hinter diesen Empfindungen aufklären.
Denn fatalerweise trägt die Sorge oder Frustration rund um die zusätzlichen Ohr-bezogenen Symptome vielfach dazu bei, dass die Tinnitus-Belastung aufrechterhalten oder gar noch weiter verstärkt wird.
Ganz gezielt genesen
Wenn Sie Ihre Tinnitus-Genesung systematisch angehen wollen, empfehlen wir Ihnen Große Tinnitus-Heilbuch. Dieser Ratgeber vereint die erwiesenermaßen wirksamsten therapeutischen Maßnahmen zu einem einfachen, äußerst hilfreichen Selbsthilfe-Programm.
Ergänzend kann unter Umständen auch eine Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) sinnvoll sein, zum Beispiel um übermäßige oder unbegründete Ängste sowie negative Denkmuster abzubauen, die eine Genesung vom Tinnitus-Leiden behindern.
Die erfolgreichsten Therapien für einen gezielten Abbau der Tinnitus-Beeinträchtigung sind die Tinnitus-Retraining-Therapie („nach ADANO-Richtlinien“, also unter Einbeziehung psychologischer und entspannungstherapeutischer Strategien), die weitgehend ähnliche „Tinnitus-Bewältigungs-Therapie“ sowie die „Tinnitus-zentrierte KVT“.
Auf diesen Ansätzen beruht letztlich auch die Behandlung in sämtlichen spezialisierten Tinnitus-Kliniken – und unser Selbsthilfe-Programm.
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